Triggerwarnung: Dieser Text beinhaltet Symptomatik und Auswirkungen von Essstörungen und Insulin-Purging. Solltest du aktuell an einer Essstörung erkrankt sein, könnte der nachfolgende Text triggernd wirken.
Vor zwei Jahren habe ich zusammen mit meiner besten Freundin in einer WG gelebt und sie war es, die mich damals, als ich ins ketoazidotisches Koma fiel, bewusstlos vorfand und den Krankenwagen rief. Ich hatte sie an diesem Sonntag schon mal um Hilfe gebeten. Mir ging es wirklich miserabel und ich bat sie mich zum Arzt zu fahren. Ich kam jedoch bloß bis zur Wohnungstür, dann brach ich zusammen, weil ich keine Luft bekam. „Ich schaff das nicht“. Sie setzte mich aufs Bett und rief einen Krankenwagen.
Wenig später war die Hilfe bei uns.
Ich selbst sehe diesen Tag total verschwommen und weiß selbst nicht genau, was dann passierte. Meine Freundin erzählte den Ärzten noch, dass ich Diabetes habe und sie fragte mich, ob ich gespritzt habe. Ich nickte wohl.
Dann erklärten mir die Ärzte bloß, dass das die Panik sei. Ich musste in eine Tüte atmen und andere Atemübungen machen. Danach wurde mir gesagt, ich solle mich weiter beruhigen und hinlegen. Meine Freundin fragte noch, ob sie mich zum Arzt bringen solle, falls es schlimmer werde. Aber „da würde man auch nichts anderes für mich tun“, lautete die Antwort.
Also legte ich mich ins Bett und versuchte zu schlafen. Ich erinnere mich, dass Sabrina immer mal wieder herein kam und fragte ob alles gut sei, oder ob ich zum Arzt will. Ich sagte immer nur: „Nein, alles gut, ich schlafe noch ein bisschen“.
Alles was danach geschah weiß ich nur aus ihren Erzählungen.
Und jedes Mal, wenn sie mir davon erzählt, wird mir mulmig zumute. Hauptsächlich wegen ihr, weil sie dies durchmachen musste. Immer und immer wieder lese ich ihre Texte, um mir bewusster zu werden, was ich heraufbeschworen hatte. Es macht mir Angst, aber manchmal kann ich diese Angst auch ziemlich gut verdrängen.
Letzten Monat habe ich Sabrina erneut für die Blood-Sugar-Lounge interviewt. Und wieder musste ich schlucken. Ihre Worte treffen mich jedes Mal wieder, deswegen möchte ich diesen Textauszug auch hier mit euch teilen und ihr danken, für alles, was sie für mich getan hat.
Ich hasse es, wenn es jemandem schlecht geht, den ich mag und ich mache mir meistens zu viele Sorgen.
Aber ich kenne dich und wusste, dass du auch gern mal etwas herunterspielst.
Deswegen denke ich heute noch manchmal: „Hätte ich dich doch nur morgens ins Auto gepackt und wäre mit dir ins Klinikum gefahren!“
Der Notarzt war ja da, leider waren es wohl die inkompetentesten Ärzte aus ganz Kassel – wenn nicht sogar, aus ganz Deutschland.Ich weiß noch, dass du unfassbar schwer atmen konntest. Deshalb riefen wir ja den Notarzt: Du wärst die Treppe nicht mehr rauf oder runtergekommen.
Nachdem die Ärzte weg waren wolltest du dich ausruhen. Ich war in meinem Zimmer, hörte ab und an, wie du auf Toilette gingst – und du bist wirklich auffällig oft über den Flur gelaufen und schaute immer mal wieder bei dir rein.Irgendwann liefst du nicht mehr über den Flur. Es muss so zwischen 15 und 17 Uhr gewesen sein. Ich wunderte mich und ging in dein Zimmer. Du lagst auf dem Bett, hattest weißen Schaum vor dem Mund. Ich versuchte dich zu wecken, du hast aber kein bisschen reagiert und nur komische Geräusche von dir gegeben.
Ich hätte am liebsten geheult, aber ich war viel zu aufgewühlt um zu weinen. Ich rannte auf den Flur zum Telefon und drückte ohne viel nachzudenken 112.
Ich sagte: „Hallo! Es ist mir total unangenehm, ich habe heute Morgen schon einmal angerufen! Meine beste Freundin ist Diabetikerin! Sie liegt auf dem Bett und bewegt sich nicht mehr und hat Schaum vorm Mund! Bitte kommen Sie schnell!“ Der Mensch am Telefon versuchte mich etwas zu beruhigen und sagte mir, dass sie sofort jemanden schicken.Die Zeit zwischen Anruf und Ankunft der Sanitäter müssen die längsten 7 Minuten meines Lebens gewesen sein.
Ich rannte durch die Wohnung, schaute aus dem Fenster, schaute nach dir, versuchte dich wach zu bekommen – aber es half nichts. Ich setzte mich zur dir auf das Bett und redete mit dir.Dann klingelte es endlich! Die Sanitäter kamen, packten alles aus und endlich kümmerte sich jemand um dich! Sie stellten mir so viele Fragen, wie alt du bist und was passiert ist und ich erzählte ihnen alles, was ich wusste.
Irgendwann stand ich da, mitten im Zimmer. Da kamen mir dann tatsächlich die Tränen.Einer der Sanitäter versuchte dir etwas Blut abzuzapfen, um deinen Blutzuckerwert zu bestimmt. Erst kam kein Blut und dann war der Wert nicht mehr messbar. „Oh je, die ist high!“, sagte einer von ihnen.
Einer der Sanitäter telefonierte dann wild herum, bis er ein freies Bett auf einer Intensivstation gefunden hatte. „Wir nehmen sie jetzt mit ins Krankenhaus!“
Ich fragte, ob ich mitkommen kann, aber sie wollten mich erst nicht mitnehmen. Ich bat und redete einfach so lange, bis sie mich mit dir mitfahren ließen.
Im Krankenwagen hat es sehr nach Aceton gerochen. Auch in unserer Wohnung war dieser Geruch sehr stark. Ich habe mich geärgert, dass mir das vorher nicht aufgefallen ist. Anscheinend hatte ich mich in den vergangenen Wochen aber dran gewöhnt.Es muss einfach intuitiv gewesen sein! Das einzige was ich gedacht hatte war: Notarzt! Man fühlt sich unfassbar hilflos, aber das geht wahrscheinlich jedem so, der seine beste Freundin bewusstlos findet, egal ob sie nun Diabetes hat oder aus irgendeinem anderen Grund bewusstlos vorfindet.
Die Sicht auf den Diabetes hat sich danach sehr verändert! Es war immer so eine Krankheit, „an der man ja nicht sterben kann“. Ich weiß, dass es wirklich gefährlich werden kann und das damit nicht zu spaßen ist. Natürlich ist es wichtig, dass man alles mit etwas Humor sieht, man muss aber auch erkennen wann es ernst wird.Ich glaube, dass sich unser Verhältnis durch diesen Vorfall noch mehr gestärkt wurde. Auch wenn uns jetzt 200 Km trennen, sind wir uns immer noch näher, als manch andere Menschen, die Tür an Tür leben.
Und wenn ich schon jemandem das Leben rette, dann jawohl dir!Ein Typ F’ler sollte viel Verständnis, auch Durchhaltevermögen besitzen und einfach da sein, wenn er gebraucht wird. Wenn man eine Person, die zufällig Diabetes hat mag, dann wird man schon den richtigen Weg finden, um sie damit zu unterstützen.
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