In meiner Jugend war eine Menge los. Ich war rebellisch, kaum in den Griff zu kriegen, nicht nur für meine Eltern oder meine Ärzte, auch für mich selbst. Ich liebte es zu provozieren, aufzufallen und unkonventionell zu sein. Ich wollte anders sein, um jeden Preis, egal ob positiv oder negativ, Hauptsache nicht langweilig.
Wahrscheinlich können die meisten über sich und ihre Jugend dasselbe sagen und je älter ich wurde, desto ruhiger wurde ich. Ich wollte mich anpassen, dazugehören, geliebt werden – von jedem! Ich hatte Angst vor Streitigkeiten, Auseinandersetzungen – ja, sogar vor Diskussionen. Ich wollte nur meine Ruhe.
Irgendwo auf diesem Weg habe ich mich verloren
Ich weiß nicht, woher diese permanente Angst kam, dieses unstillbare Verlangen gemocht zu werden. Vielleicht weil ich mich selbst nicht mehr mochte, mich selbst – vor allem meinen Körper -nicht mehr lieben konnte. Meine Gewichtszunahme endete nicht nur in einer Essstörung, sondern auch in einer jahrelangen Identitätskrise. Ich wusste nicht mehr wer ich war, wie ich sein wollte. Die, die ich sein wollte schien unerreichbar zu sein. Ich versuchte verschiedene Kleidungsstile, krempelte meinen Kleiderschrank komplett um und auch meine Wohnung wurde ständig anders dekoriert. Ständig änderte ich mich und mein Auftreten. Durch Filme, Serien, Schauspieler, Musiker, Vorbilder etc. ließ ich mich immerzu beeinflussen. War ich von etwas begeistert, wollte ich genauso sein und änderte wieder alles. Nichts davon fühlte sich wirklich richtig an. All das Trieb mich weiter in die Unzufriedenheit, in die Essstörung.
Die 30er Krise
Oft hört und liest man davon, dass viele mit 30 die erste Lebenskrise haben. Ausbrechen aus ihrem bisherigen Alltag, ihr Leben auf den Kopf stellen. Sie wollen sich nicht limitieren lassen, haben vielleicht Angst etwas zu verpassen. Tatsächlich hatte ich am Ende auch ein bisschen Angst vor der großen 30. Doch ich habe meinen Geburtstag nicht nur überlebt, ich habe mich endlich wiedergefunden. Es fühlt sich so an, als wäre ich endlich wieder da – nie weg gewesen. Plötzlich ist die Angst nicht akzeptiert zu werden wie man ist, verschwunden. Dafür ist meine Leichtigkeit zurückgekehrt. „Wenn du mich so nicht magst, dann eben nicht!“
Ich bin happy, fühle mich wohl in meinem Körper, der sich endlich wieder anfühlt als würde er zu mir gehören. Vorher war er mir so fremd. All die Jahre. Nur, weil ein paar Kleidergrößen dazwischen lagen. Es ist absurd, ich weiß das. Aber genau das ist diese Irrationalität einer Essstörung, gegen die man mit gesundem Menschenverstand nicht ankommt.
Das Für und Wider
Klar, können wir hier jetzt weiter darüber reden, wie scheiße Essstörungen sind. Denn das sind sie und das habe ich auf diesem Blog hoffentlich auch deutlich genug gemacht. Trotzdem bin ich endlich wieder glücklich, aus so banalen Dingen. Nur, weil ich endlich das Gewicht wiederhabe, das ich hatte, bevor ich mich verlor. Es ist verrückt, dass ich mich anscheinend darüber definiere, aber wisst ihr was? Ich möchte nicht darüber nachdenken wie falsch es ist, dass ich gerade glücklich bin. Ich möchte einfach glücklich sein. Ich kann momentan auch wirklich sagen: „Ich möchte nicht weiter abnehmen. Es ist gut so wie es ist. Ich mag meinen Körper so wie er ist“ Allerdings möchte ich auch nicht wieder zunehmen. Ich möchte einfach mein Gewicht halten. Das ist doch schon ein Anfang, oder?
Wer ist Lisa?
Es ist nicht so als hätte ich die letzten Jahre alle belogen. Meine Werte, Moralvorstellungen, meine Träume, Wünsche und Prioritäten sind dieselben. Nach wie vor sind für mich das wichtigste die Menschen in meinem Leben. Meine Familie, meine Freunde. Mich interessiert kein Geld, Machtgehabe oder Konkurrenz, solange ich gut über die Runden komme und meine Liebsten um mich habe. Man macht mir weiterhin mehr Freude mit tiefen Gesprächen als mit Sachgegenständen. Ich schaffe lieber Erinnerungen und schöne Momente, als auf das Materielle zu achten.
Es geht hier eher um Äußerlichkeiten. Früher wäre mir nie in den Sinn gekommen, mich für jemanden einzukleiden ohne dass ich mich selbst wohl fühle. Doch in den letzten Jahren wollte ich mich eher verstecken, nicht großartig auffallen – und ganz besonders meinen Körper verstecken. Ich dachte ab einem gewissen Alter, mit gewissem Erfolg, muss man sich der Gesellschaft irgendwie anpassen. Aber das ist völliger Quatsch. Denn dadurch, dass ich mich äußerlich nicht zu 100% wohl fühlte, spiegelte sich das auch in meinem Wesen wider. So wurde ich immer ruhiger, ängstlicher und wollte einfach nur nicht auffallen.
In Zukunft werde ich vielleicht weniger ein Blatt vor den Mund nehmen. Ich werde ich sein, so wie ich mich fühle. Ich werde nicht mehr versuchen es ständig allen recht machen zu wollen. Denn heute weiß ich, wer ich bin und was ich kann. Und ich weiß, dass ich viele Menschen in meinem Leben habe, die mich so lieben wie ich bin. Und alles andere ist egal.
Erst gestern habe ich auf einer Seite über Essstörungen gelesen: „Ich konnte heilen, weil ich nicht mehr vor mir selbst weggelaufen bin“. Vielleicht passiert gerade das bei mir.
Daniel meint
Sehr schön geschrieben. Ehrlichkeit ist das wichtigste. Toll das du so bist.