*Triggerwarnung: Dieser Text beinhaltet Symptomatik und Auswirkungen von Essstörungen und Insulin-Purging. Solltest du aktuell an einer Essstörung erkrankt sein, könnte der nachfolgende Text triggernd wirken.
Liebes Tagebuch,
Momentan fällt es mir wieder etwas schwerer. Meine Gedanken drehen sich viel ums Essen, Abnehmen und Aussehen. Ich fühle mich in meinem Körper unwohl und finde ihn nicht schön. Schön finde ich ihn eigentlich sowieso nie, aber mal ist es besser und mal schlimmer.
Schwerer wird es jedes Mal, wenn irgendwelche Veranstaltungen anstehen, bei denen mir Menschen von früher begegnen. Frag mich nicht wieso. Vielleicht will ich zeigen, dass ich etwas aus mir gemacht habe. Das ich nicht mehr der moppelige, aufmüpfige und auch irgendwie merkwürdige Teenager bin, der ich mal war. Ich möchte beweisen, dass ich mich geändert habe, dass ich erwachsen geworden bin und alles im Griff habe. Dabei ist es genau das, was ich eben gar nicht im Griff habe.
„Das kannst du noch viel besser!“
Vor zwei Wochen hatten mein Bruder und mein Papa Geburtstag. An dem Geburtstag von meinem Papa bekam ich viele Komplimente „Wow, du hast aber toll abgenommen!“ „Du bist ja richtig schlank geworden.“ „ich hätte dich gar nicht wiedererkannt. Du hast richtig etwas aus dir gemacht.“ Das geht natürlich runter wie Öl, spornt meinen Druck aber nur noch weiter an. Komisch ist, dass ich mich bei solchen Komplimenten zwar kurzzeitig gut fühle, aber danach nur noch motivierter bin, mehr abzunehmen um „noch mehr aus mir zu machen“. Es ist irgendwie eine Teufelsspirale. Ich kann Komplimente nicht einfach nur hinnehmen und mich freuen. Sie haben immer auch einen Beigeschmack, der mir sagt „Ja, aber du kannst noch mehr!“ Der innere Schweinehund brüllt „Das geht NOCH besser!“
Ich komme mir dann irgendwie vor wie eine Schwindlerin und Betrügerin. Seit diesem Geburtstag mache ich wieder sehr viel Sport und achte ganz genau auf mein Essen.
Die Angst vor dem Insulin-Purging ist verschwunden.
Immer wieder denke ich über all das nach, was passiert ist, in der Hoffnung endlich zu erkennen, wie blöd ich damals war, als ich das Insulin weggelassen habe, um abzunehmen.
Aber je länger mein Erwachen auf der Intensivstation her ist, desto harmloser fühlt sich das alles an. Dieser Schokmoment, meine Eltern auf der Intensivstation, wie sie an meinem Bett sitzen, ist mittlerweile 5 Jahre her und so schwindet auch mein Respekt vor den Folgen des Insulin-Purgings. Ich könnte morgen wieder damit anfangen und würde erst wieder aufhören, wenn ich wieder auf der Intensivstation gelandet bin. Meine Angst vor dem insulin-Purging ist mit den Jahren verschwunden. Dass das nicht gut ist, weiß ich natürlich selbst.
Insulin-Purging kommt für mich heute nicht mehr in Frage. Auch wenn der Hauptgrund einfach das CGM-System ist. Meine Ärztin und mein Freund würden es sofort merken, das CGM verzeiht keine Fehler und frisieren kann man da auch nichts. Ich wollte damals die totale Überwachung auch aus genau dem Grund. Damit ich niemanden – und vor allem mich selbst- nicht mehr belügen kann. Heute nervt es mich manchmal, aber ich weiß auch, dass es vielleicht der einzige Schutz vor dem Insulin-Purging ist, den ich momentan habe.
„Vielleicht ist der Pen kaputt, oder die Ampulle ausgelaufen!?“
Damals, als ich auf die Intensivstation kam, habe ich noch versucht den wahren Grund geheim zu halten: „ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Vielleicht ist der Pen kaputt, oder die Insulinampulle…?“ Ich glaube, niemand hat mir wirklich geglaubt. Selbst meiner Diabetologin habe ich nicht die Wahrheit gesagt. Ich habe mich nicht getraut. Sie hat es irgendwann durch meinen Blog erfahren. Sehr erwachsen, Lisa. Mir war das damals ziemlich peinlich, aber es hat mir extrem geholfen, dass meine Diabetologin wusste, was los ist. Leider verstehen das heute ja immer noch nicht viele Ärzte und verurteilen einen. Da habe ich Glück, meine Ärztin beschäftigt sich selbst mit Diabulimie und versucht mir zu helfen. Sie verurteilt mich nicht oder wird böse, sondern versucht mir wirklich zu helfen und ist immer verständnisvoll.
Nie genug.
Ich fühle mich nach wie vor mega unwohl und fett. Ich kann nicht essen ohne ein schlechtes Gewissen zu haben und trotzdem drehen sich meine Gedanken permanent ums Essen. Ich hasse das.
Ich versuche alles mögliche, um abzunehmen – auch andere dumme Dinge ließ ich nicht unversucht. Wenn Insulin-Purging nicht geht, weil es jeder gleich mitbekommen würde, muss ich mir was anderes ausdenken. Dazu versuche ich es natürlich auch mit Kalorien zählen und Sport, aber mir reicht das nicht. Vielleicht bin ich auch einfach zu ungeduldig.
Meine Therapie hilft ein bisschen, aber ich glaube so ganz kommt man da nie wieder raus. Ich befürchte, dass es ein lebenslanger Kampf mit diesen Gedanken ist. Man muss nur lernen mit ihnen zu leben und ihnen nicht die Kontrolle zu überlassen, auch wenn es extrem schwer ist.
Stillstand.
Eigentlich ist Stillstand gerade ein Wort, welches ich mit meinem Leben so gar nicht in Verbindung bringen würde. Die letzten drei Wochenenden war ich unterwegs. Köln, Kassel, Frankfurt, Hannover Berlin. Ich habe einen Workshop gegeben, war beim Barcamp der Blood-Sugar-Lounge und auf einem Konzert in Berlin. Zwischendrin habe ich noch gearbeitet und studiert. –Ach und in der Heimat war ich auch, habe meine Eltern besucht und ein paar Sachen von mir in das Haus verfrachtet, in das ich nächstes Jahr ziehen möchte.
Dann gibt es auch noch meine Beziehung, meine Freunde und natürlich den Blog. Mein Kopf ist voll und geruht habe ich am allerwenigsten.
Stagnation hat sich eingestellt
Ich bin so beschäftigt, dass ich es seit Wochen nicht mehr zum Sport geschafft habe. Prompt stellt sich bei mir eine Unzufriedenheit mit meinem Körper ein. Ich fühle mich unwohl, hässlich, dick. Würde mich am liebsten verstecken, nicht rausgehen und in dicke Wollklamotten hüllen. Aber verstecken war die letzten Wochen so gar nicht drin. Ich musste raus, ich musste mich und meinen Körper zeigen.
Da werden die Stimmen in meinem Kopf immer lauter. Die unterdrückte Gewohnheit, das Insulin wegzulassen, dringt durch meinen Schutzpanzer, den ich mir in den letzten Jahren versucht habe aufzubauen.
Ich möchte ehrlich sein, denn das macht meinen Blog seit jeher aus: Ich würde mein Insulin so gerne weglassen. Gäbe es nur mich, ohne meinen Partner, ohne meine Freunde und Familie: ich hätte es längst getan. Ich hätte sogar nie damit aufgehört.
Den Entschluss, etwas zu ändern, einen Schlussstrich zu ziehen, fasste ich nur, weil ich den Kummer meiner Lieben nicht ertragen habe. „Das kann ich ihnen nicht antun“. Der Gedanke, dass ich MIR das nicht antuen kann, kam mir erst sehr viel später. Immer dann, wenn ich einen Augenarzttermin habe zum Beispiel. Ansonsten ist es mir tatsächlich die meiste Zeit egal, was ich mir antue. Aber ich will niemand anderem wehtun. Also spiele ich mit. Lass das Purgen sein.
Wenn alles so einfach wäre
In meinem Kopf ist alles so einfach. Ich muss nur mein Wunschgewicht erreichen und meine Ängste, z.B. Menschen treffen, sind dahin. Alle würden mich mögen, weil ich ja schlank bin. Ich würde mir auf Fotos gefallen, ohne das ich 500 Stück knipsen muss, bevor ein gutes dabei ist.
Dass das absoluter Blödsinn ist, ist mir klar. Aber man sucht ja gerne einen Sündenbock für seine Probleme. Und da stelle ich mir gerne vor: Wenn mein Gewicht geringer wäre, wären all meine Probleme dahin. Obwohl ich schon seit Jahren weiß, was für ein Unsinn das ist, bekomme ich diese Gedanken nicht weg.
Ich tue das nicht für mich
Aus Liebe zu meiner Familie und meinen Freunden spritze ich also mein Insulin, so wie ich muss. Das CGM zwingt mich, meine Werte im Rahmen zu halten. Nie war Kontrolle so einfach. Für mich, aber auch für meinen Partner und meine Ärzte. Da ist kein Platz für Lügen und Verleugnungen.
Aber in meinem Kopf sind die Gedanken ums Abnehmen und Insulin-Purging in diesen Tagen sehr präsent. Ich führe sie zwar nicht durch, mache momentan aber auch nichts aktiv gegen diese Gedanken. Keine Lust, keine Zeit, keine Ahnung wie.
Deswegen konzentriere ich mich gerade mehr darauf Aufmerksamkeit für Diabulimie zu schaffen. Aufzuklären und anderen zu Helfen. Auch wenn das vielleicht heuchlerisch ist, weil ich selbst nach wie vor festgefahren bin.
Immer wieder muss ich daran denke, dass mir nur ein Arzt ein Interview zum Thema Diabulimie geben wollte, als ich einen Artikel für die Tageszeitung geschrieben habe. „Dazu wollen wir nichts sagen.“, „Dazu können wir nichts sagen.“, „Diabulimie? Nie gehört. Das gibt es gar nicht!“
Über Diabulimie reden
Nur weil wir nicht darüber reden, verschwindet dieses Problem nicht. Und glaubt mir, die Menschen mit Diabetes die einen Hang zu Essstörungen und solchen Gedanken haben, die kommen auch alleine zu der Schlussfolgerung Insulin einsparen zu können.
In der letzter Zeit konntet ihr deswegen einige Artikel über Diabulimie finden, in denen ich mitgewirkt habe.
z.B. zusammen mit Staeff von diabetes-leben.com bei Spiegel-online und alleine bei web.de
Ein paar weitere sind außerdem geplant.
#selbstetwasbewegen
Zu guter Letzt habe ich mich Selbständig gemacht, denn ich möchte gerne über Diabulimie reden. Gerne in Vorträgen bei allen, die Interesse daran haben. Etwas darüber erfahren wollen oder meine eigenen Erfahrungen hören möchten. Wichtig bleibt, dass ich keine Diabetesberaterin oder Ärztin bin. Aber ich bin ein Mensch mit Diabetes, ich lebe seit meinem 10ten Lebensjahr mit dieser chronischen Krankheit und ich habe eine lange Zeit Insulin-Purging betrieben. Ich kann nur von mir, meinen eigenen Gedanken und Gefühlen sprechen. Aber ich habe Erfahrung. Erfahrung, die anderen helfen können. Und das möchte ich einfach nutzen. Wenn ich etwas Positives mit meinen schlechten Gedanken bewirken kann, ist all das wenigstens für etwas gut.
Falls Ihr Interesse daran habt, schreibt mir doch einfach eine Mail (lisa[at]lisabetes.de)
BBC hat außerdem eine ganz gute Doku über Diabulimie & Insulin-Purging veröffentlicht. Mich hat sie teilweise zu Tränen gerührt, sie ist schockierend, gibt aber auch Hoffnung.
Sebastian meint
Hallo Lisa,
echt schöner Artikel ich habe seit knapp 4 Jahren jetzt den Typ 1 Diabetis .Anfangs echt eine Herausforderung mit der zeit und
mit vielen Therapien Schulungen und Ratgeber die noch heute mir in vielen dingen weiter helfen
diabetistyp1 teil meines Lebens geworden
feue mich über eine antwort
lg
Sebastian
Claudi meint
Wirklich ein sehr schöner Artikel. Ich lese seit meiner Diagnose am 06.03.17 einige Blogs, aber deiner und das Thema Diabulimie bewegt mich sehr. Ich bin bei meiner Therapie aktuell sehr gewissenhaft und diszipliniert, aber habe bereits letztes Jahr im Oktober gemerkt, dass etwas mit mir nicht stimmt und mir durch Google selbst die Diagnose gestellt, diese jedoch ignoriert, da mir das Abnehmen wichtiger war, als meine Gesundheit.
Saskia meint
Sehr schöner Artikel, Lisa. Ich find’s echt toll wie du dagegen angehst und weiter machst und jetzt sogar noch etwas Positives daraus ziehst und weiter geben willst. Mach weiter so <3
Beate meint
Go for it Lisa, ich bin stolz auf dich!
Und für beziehungsweise gegen die Dämonen: Expecto patronum!
<3
VIKTORIA meint
Ich habe einen GMX e-mail Account und habe erst durch den Artikel auf Web.de (das alle GMX-User erreicht) erst diesen BLOG kennengelernt!