Eigentlich ist dem Video von Michi (Type1 Backpacker) nichts mehr hinzuzufügen. Sätze wie „Es ist ja nur Diabetes“ können einen hin und wieder wirklich auf die Palme bringen. Ich sage deswegen „hin und wieder“ weil ich sowas manchmal sogar selbst denke. Sogar meine Mama. Immer wenn man hört, was es noch so für schreckliche Dinge auf dieser Welt gibt, denke ich: „Ach, mit Diabetes kann man heute super Leben. Da habe ich ja noch Glück gehabt“. Naja, irgendwie stimmt das ja auch. Und dann auch wieder nicht.
Jeder Mensch hat sein Päckchen im Leben zu tragen, das habe ich mittlerweile gelernt. Und doch schaut man hin und wieder neidisch anderen dabei zu wie sie augenscheinlich ihr „ganz normales Leben“ führen. Essen und trinken ohne sich Gedanken machen zu müssen? Kein Kopfrechnen am Buffettisch. Keine Extra-BE beim Sport und keine nächtlichen Störungen wegen blöder Blutzuckerwerte.
So Tage…
Es gibt so Tage, da bin ich wirklich genervt vom Diabetes. Eben so wie Michi es in seinem Video eindrucksvoll erzählt, sieht man mich dann schimpfend wie ein Rohrspatz mit übler Laune und „kein Bock auf das alles“-Attitüde herum fluchen.
Gestern bzw. heute Nacht war es mal wieder so weit. So ein Moment in dem ich dachte: „Wieso kann mein blöder Körper nicht einfach funktionieren wie jeder andere auch!“
Aber zur Story
Gestern hatte ich einen wirklich wundervollen Abend mit zwei Freundinnen. Wir waren lecker essen – und natürlich haben wir auch etwas getrunken. Stundenlang saßen wir im Restaurant und redeten über Gott und die Welt.
Ich bestellte mir einen Flammkuchen mit Oliven und eine Cola Light. Dann teilte ich mir noch eine Weißweinschorle und trank ein dunkles Bier. Meine Werte hatte ich hin und wieder im Blick ohne dem Diabetes an dem Abend zu viel Raum zu geben. Es war Freundinnenzeit und nicht Diabeteszeit.
Wie geplant lief mein Sensor während des Essens ab und ganz beiläufig nahm ich den Transmitter ab und stecke ihn auf sein Ladegerät. Als er voll geladen war, kam er wieder an den Arm. Meine Freundinnen registrierten das schon gar nicht mehr richtig, denn sie kennen das ja bereits. Auch ich würdigte den Prozess mit keinem Kommentar. Warum auch?
Irgendwann war es dann Zeit zu kalibrieren und auch das machte ich schnell nebenbei.
Mein Blutzucker lag bei 205 mg/dl was ich erwartet und auch gehofft hatte. Ich meine, Flammkuchen, hallo? Außerdem war der erhöhte Blutzuckerwert geplant, da ich Wein und Bier trank. Um auf keinen Fall eine Unterzuckerung bei Alkoholkonsum zu riskieren bin ich in diesen Momenten doch sehr vorsichtig und behalte meinen Werte gerne bei der 200. Dabei blieb es dann auch konstant für den Rest des Abends.
Also alles gut?
Ja, bis… Als ich zu Bett ging, es war so gegen 23:00 Uhr, testete ich noch einmal. 180Mg/dl, Trendpfeil gerade und der restliche verzögerte Bolus vom Flammkuchen sickerte auch noch in mein Gewebe. Eigentlich perfekt.
Gegen halb zwei Uhr wachte ich dann jedoch mit höllischem Durst und Kopfschmerzen auf. Meine Pumpe sagte mir 250 mg/dl. Okay, kann hinkommen. Dennoch testete ich blutig. Zum Glück, denn da sprang mir gleich eine andere Zahl entgegen: 415 mg/dl. What?
Da war ich doch etwas geschockt. Nicht, weil der Sensor so eine große Abweichung hatte, sondern weil der Wert so hoch war.
Der Sensor
Wie ihr sicher wisst trage ich den Enlite-Sensor von Medtronic. Dieser läuft in der Regel fünf Tage. Ich trage meinen Sensor allerdings meistens um die 10-13 Tage.
Läuft der Sensor nach fünf Tagen ab, nehme ich den Transmitter herunter und lasse ihn laden. Anschließend stecke ich ihn wieder auf den Sensor und drücke „neuen Sensor starten“. Dann läuft der Sensor, wenn alles gut läuft, weitere fünf Tage. Das klappt bei mir immer bestens, die Abweichung ist niemals größer als in den ersten 5 Tagen. Läuft er dann wieder ab, mache ich das Ganze nochmal. Jedoch läuft er dann (bei mir) nur noch 1-3 Tage.
Beim zweiten Mal „Verlängern“ bin ich also schon sehr wachsam und rechne eigentlich jeden Moment damit, dass der Sensor sich verabschiedet.
Da genau das gestern Abend der Fall war gebe ich dem Sensor an der ganzen Sache keine Schuld.
Der Wert
Der Flammkuchen war fettig, ja. Die Cola war neutral. Der Wein und das Bier ließen meinen Blutzucker anstiegen – zunächst. Denn Stunden später lässt der Alkohol den Blutzuckerspiegel sinken. Das behielt ich natürlich immer im Hinterkopf. Ich spritze voll für den Flammkuchen und verzögerte 1/3 davon auf mehrere Stunden. Für das Bier und den Wein berechnete ich nichts. Bis Mitternacht lief dann auch alles gut, aber wie zur Hölle konnte ich trotz laufendem Bolus in ca. zwei Stunden von 180 auf 415 mg/dl steigen? Mit Insulin und Alkohol im Blut. Lag es nur am Flammkuchen, den ich selbst falsch berechnet habe oder wollte mein Diabetes einfach mal wieder zeigen, was er so kann?
Und dann?
Es ist also zwei Uhr nachts. Die Abweichung vom Sensor (Sensor 250 → Blutzucker 415) war mir zu hoch und so setze ich schnell einen neuen Sensor und stecke den Transmitter auf die Ladestation. Am nächsten Morgen würde ich dann den neuen Sensor starten.
Um sicher zu gehen wechselte ich auch noch schnell den Katheter, das hätte ich heute sowieso machen müssen. Dann korrigierte ich. Und zwar ohne zu halbieren. Normalerweise korrigiere ich nach Alkoholkonsum nur mit meinem halben Faktor, aber ich war so hoch, dass ich wirklich angefressen war. Ich war richtig stinksauer und fluchte herum. Außerdem war eine halbe Weißweinschorle (ein halbes Glas) und ein Bier ja auch nicht soooo viel Alkohol. Am Ende zog ich lediglich eine Einheit ab, da ich es bei 7 Einheiten doch etwas mit der Angst bekam.
Dann legte ich mich wieder Schlafen. Aber mit Schlafen war es vorbei. Ich hatte Durst und fühlte mich wie überfahren. Also steckte ich doch noch in der Nacht den Transmitter auf den Sensor als dieser fertig geladen hatte. Ich war ja sowieso wach.
Zwei Stunden später konnte ich dann auch Kalibrieren: Ich war ja sowieso wach.
Mittlerweile war mein Wert wieder bei 260 mg/dl angekommen. Das war akzeptabel und ich fühlte mich langsam besser.
Ich schaffte es endlich wieder einzuschlafen. Plötzlich wurden meine Träume unruhig. Ich träumte davon, dass ich krank und mir übel sei. Dann träumte ich von einer Unterzuckerung, die ich im Traum sofort mit Saft bekämpfte. Aber sie wollte nicht aufhören. Also aß ich noch mehr. Das Ganze zog sich ewig hin, doch mein Kopf verstand einfach nicht, dass die Unterzuckerung kein Traum sondern Realität war und das der Saft, den ich im Traum trank dagegen nicht helfen würde. Endlich wachte ich auf, schweißgebadet, aber wach und endlich konnte wirklich etwas trinken. Meine Pumpe sagte: 130, fallend. Joa. Aber warum flippt mein Körper da so aus? Also wieder blutig nachmessen: 58. Das stimmte schon eher.
Auch hier gebe ich dem Sensor keine Schuld. Meine Werte waren die Nacht die reinste Achterbahnfahrt. Es war töricht von mir, da zu kalibrieren. Denn das soll man stets bei stabilen Blutzuckerwerten machen. Der Sensor musste sicherlich einiges leisten, konnte bei diesen Schwankungen aber einfach nicht hinterher kommen.
Das Ende vom Lied
Trägt man mal eine Nacht keinen Sensor, fühlt sich der Diabetes unbeobachtet. Als hätte er sturmfreie Bude. Nur das die Bude mein Körper ist und seine Party meinen Werte zum randalieren bringt. Sicherlich war ich auch selbst etwas Schuld. Das Essen, der Alkohol, den Sensor das zweite Mal verlängern und mit Achterbahn-Werten kalibrieren. Jaja, schon gut. Ich weiß.
Aber es lief doch alles so wunderbar! Ich hatte einen tollen Abend, an den ich mich noch lange zurück erinnern werde. Und das Berechnen und Spritzen schien zunächst auch mehr als gut zu laufen.
Und dann kommen wieder die Gedanken:
„Ich kann wohl nicht „mal einen schönen Abend“ haben. Irgendwann kommt die Quittung dafür. Der Diabetes wird dir schon zeigen, dass du nicht normal bist und nicht mal einfach so ein Bier trinken gehen kannst. Was bilde ich mir auch ein? Habe ich vergessen das ich krank bin? Ja, genau krank! Diabetes ist eine Krankheit und die bleibt für immer. Für immer. Boha, wie ich den Diabetes manchmal hasse!“
Mittlerweile liegt mein Blutzucker bei 130 und ich konnte den Sensor mit einem stabilen Wert kalibrieren. Ich denke mittlerweile schon wieder ganz anders und muss über meine Schimpftirade lachen. Na zum Glück hat die keiner gehört. Wisst ihr nämlich was? Diabetes ist gar nicht sooo schlimm. „Da gibt es schlimmeres…“ Aber wie Michi uns gezeigt und auch gelehrt hat: Es gibt Momente, da ist es eben nicht „nur“ Diabetes. Da ruiniert der „nur“ Diabetes nämlich mal eben deine ganze Nacht, du fühlst dich am Tag danach als hättest du die Party deines Lebens gefeiert und die schönen Erinnerungen an einen gemütlichen Abend werden getrübt von unstillbarem Durst und Kopfschmerzen.
Also, ist es „nur Diabetes“? Sind es „nur“ schlechte Tage? Bin „nur“ ich an diesem Dilemma schuld? Was so ein kleines Wort alles ausmachen kann.
Aber ich glaube wir sind uns einig: Diabetes ist und bleibt eine Krankheit. Wir können froh sein, dass wir in so einer tollen Zeit mit Pumpen, Sensoren und Apps leben. In vielen, sogar den meisten, Momenten leben wir ein nahezu „normales“ Leben. Dennoch bleibt der Punkt der Krankheit. Der immer mal zuschlagen kann und dann ist der Diabetes eben eine verfluchte Krankheit. Das ist so und das sollte man auch so akzeptieren. Wie jeder Mensch sein Päckchen trägt, tragen wir unseren Diabetes. Wir können uns auf die Schulter klopfen, dass wir das alles so gut meistern. Wir können für so vieles dankbar sein, aber wir müssen auch akzeptieren, dass es scheiß Momente gibt.
Mein Tipp:
Den ganze Ärger rauslassen. Auch wenn es 2 Uhr nachts ist. Schimpft ruhig in die Nacht hinein und macht eurem Ärger Luft. Danach sieht es schon wieder ganz anders aus und eventuell lässt man sich sogar stunden später zu Sätzen wie „ist ja nur Diabetes“ selbst hinreißen.
Auf jeden Fall sehe ich durch meine Krankheit andere Krankheiten und Schicksale klarer. Da zumindest bin ich mir sicher.
Es ist wahrscheinlich nicht fair. Ja, es ist ganz und gar nicht fair. Aber wenn ich- oder andere betroffene – von „nur“ Diabetes (im richtigen Zusammenhang) reden, ist das meistens okay für mich. Spricht aber jemand von „nur“ Diabetes, der mit dieser Krankheit nichts zutun hat, würde ich demjenigen gerne den Kopf abreißen. Vielleicht ist das so, weil ich denke, Menschen mit Diabetes wissen, wovon sie reden, und wenn so jemand von „nur“ Diabetes spricht, dann meint er das ganz anders, als jemand der keine Ahnung hat. Oder?
Martin Schürmann meint
Hi, beeindruckend!
Trifft genau meine Erfahrungen!
… den derzeitigen Enlite Sensor habe ich zum dritten Male neu gestartet! … und noch läuft er am dritten Tage noch einwandfrei…!
Bis bald mal!
Beste Grüsse!
Morton
Benjamin Beyer meint
Hi Lisa ,
wollte nur sagen eine „schöne“ Beschreibung aus unser aller Leben mit dem der „Diabetes macht was er gerade will “ gut klar Alkohol/Flamkuchen ist eh ne Geschichte für sich , aber ganz ehrlich ich nehm lieber solche Tage in Kauf als das ich mich von allem abkapsle was Spaß macht . @ Swantje du hast völlig Recht der Satz „nur Diabetes “ in allen Variationen nervt und setzt herab auch hinsichtlich Kinder mit Diabetes (meine kleine hat leider die 3-4% Chance erwischt und denn sch…. geerbt) liegt aber auch viel daran das sich 95% der Leute 0,0 mit Diabetes auskennen b.z.w nen Opa haben der „auch Diabetes hat [mein Lieblings Spruch eines Kumpels:der ist aber besser eingestellt als du der muss nur ne Tablette nehmen“]
So das waren meine 5cent dazu 🙂
Liebe Grüße Benjamin
rebecca meint
Glaubst wirklich der Sensor ist die Ursache für den erhöhten Anstieg deines Wertes auf 450…Nachdem Alkohol bekanntlich erst den Blutzucker steigen lässt, geht dieser nach einer gewissen Zeit wieder in den Sturzflug. Ich habe es mir angewöhnt bei Alkoholkonsum schon bei der Insulinabgabe die Einheiten entsprechend zu reduzieren…
Aber mit Pizza und Flammkuchen ist das manchmal noch so eine Sache…
Lisa meint
Hallo Rebecca,
wie oben geschrieben lag es sicherlich nicht am Sensor. Der Sensor zeigte einen Wert von 250 mg/dl, der Blutzucker lag aber bei 415 mg/dl. Diese Abweichung kam daher, dass ich den Sensor drei Mal verlängert habe und er sicherlich sowieso in der Nacht oder am nächsten Tag den Geist aufgegeben hätte. Das hat mich also gar nicht verwundert oder geärgert, da ich damit schon fast gerechnet hatte.
Mich wunderte allerdings der extreme anstieg von 180 auf 450 innerhalb von zwei Stunden. Wie du oben geschrieben hast, lässt der Alkohol den Blutzuckerwert zunächst ansteigen, das hat er auch bei mir getan. Bis 23:30 stieg mein Blutzucker und fing dann schon an zu fallen. Auch das Fallen schob ich auf den Alkohol, wie du sagst. Für den Flammkuchen hatte ich aber noch einige Einheiten an verzögerten Bolus aktiv. Also. Der Blutzucker fiel und war 23:30 mit 180 wieder stabil, aber niedriger als direkt nach dem Alkohol. Da er also schon anfing leicht zu fallen und ich noch einen verzögerten Bolus aktiv hatte, wunderten mich die 450 schon. Das ist nicht das erste Mal, dass ich Flammkuchen und Alkohol genau so brechnet habe und normalerweise komme ich mit einem 200-er Wert morgens gut raus. Selbst wenn ich mich dolle verrechnet habe, hätte ich mit einem 300er Wert gerechnet, aber nicht mit 450, steigend. Das der Wert mehr als das doppelte wie sonst hatte, hat mich dann schon gewundert. Ich habe nichts anders gemacht und hatte trotz Alkohol noch Insulin laufen. Manchmal kommt eben alles anders wie sonst, aber mit dem Sensor hatte das nichts zutun.
rebecca meint
Mir ist selbst schon bei Alkoholkonsum aufgefallen, dass durch verzögerten Bolus die Werte am Morgen sehr hoch sind. Daher spritze ich erst ab einem bestimmenten Wert und dies dann in reduzierter Form. Mit dem verzögerten Bolus habe ich bei Alkoholkonsum noch keine guten Erfahrungen gemacht.
Vielleicht haben Flammkuchen/Pizza noch den Rest dazu getan…
Lisa meint
Ich mache es bei Alkoholkonsum immer so: Alkohol wird nicht berechnet. Wenn ich Kleinigkeiten esse, dann berechne ich diese auch erst mal gar nicht. Nur bei so großen Dingen wie Pizza, Pasta etc. spritze ich mit dem halbierten Faktor. Den halbierten Faktor für BE und Korrektur behalte ich fast 12-24 Stunden bei, wegen dem Alkohol. In den ersten Stunden korrigiere ich erst ab ca. 250-300. Am nächsten morgen korrigiere ich ab 200, mit halbiertem Faktor. Das hat die letzten Jahre immer gut geklappt, mit dem halbieren. Wie gesagt kamen da auch mal Werte mit 300+ raus, aber wirklich extrem selten über 400.
Swantje meint
Liebe Lisa,
Ich versuche jedes Mal,wenn ich den Satz „Es ist doch nur Diabetes“ höre, nicht leise fluchend meinen müden Kopf gegen die nächst beste Wand zu hauen? Vergleichen ist immer Gift, egal ob ich zu den Gesunden schiele oder zu Menschen, die noch fiesere Krankheiten haben. Aber dieser Satz verhöhnt meine unermüdliche Anspannung,Rechnerei,Grübelei, WachsamesSchauenwieSportsichaufdenBzauswirkt, einfach die Unfreiheit und Verantwortung einer Diabetesmama, die jeden Tag und jede Nacht kuckt das ihr Kind überlebt. Und du hast diesen Balanceakt so schön beschrieben, diese Spannung mit der du (und ich,und so viele andere) leben.
Danke für deinen tollen Blog und all die offenen,mutigen Texte!
Liebe Grüße,
Swantje
Michael meint
Hi Lisa,
habe ich da was verpasst bei dir läuft der Sensor nur 5 Tage und nicht 6?
Gruß Michael
Lisa meint
Nein, du hast natürlich recht. Es sind 6 und nicht 5 Tage.