Ein Gespenst geht um, der Kapitalismus
Der Stand der Dinge
Als Mensch mit Diabetes leben zu müssen ist immer eine Bürde und bedeutet in gewisser Hinsicht Einschränkung und Verzicht. Sind wir mal wirklich ehrlich, daran lässt sich nichts rütteln. Auch in unserer modernen Zeit kann der Diabetiker von Welt nicht einfach von jetzt auf gleich aufspringen und sich körperlich verausgaben, wenn nicht gewisse Werte eingehalten werden können. Jeder Diabetiker kennt sicher die nervtötende Warterei, wenn man gerade noch in seinem so wundervoll geplanten Tagesablauf ein Fenster für Sport freigeräumt hat und dann will der verdammte Blutzucker einfach nicht auf das richtige Niveau klettern. Anderes Beispiel: man will in die Stadt gehen und dringende Wege erledigen und auch hier macht einem oft genug eine rasant anrollende Hypo das Leben schwer und bremst einen abrupt aus. Natürlich sind das „Luxusprobleme“, im Vergleich zu früheren, schon fast mittelalterlich anmutenden Behandlungspraktiken mit Urinteststreifen und Auskochspritzen. Man sollte dennoch nie unterschätzen wie viel wertvolle Lebenszeit jeder einzelne mit all diesen Vor- und Nachbereitungen für teilweise nur kleine Erledigungen tagtäglich verschwenden muss. Trotz dieser nervigen Begleiterscheinungen ist heute aber ein ganz normales Leben mit Diabetes absolut möglich.
Wir sind in der Behandlung von Diabetes Mellitus weit gekommen, spätestens seit dem Auftauchen von Hybrid Closed Loop-Systemen bahnt sich nun ein Wandel im gesamten Feld der Diabetologie an. Auch wenn das für viele noch nach Zukunftsmusik klingen mag, die Systeme existieren und bis sie den breiten Markt erobert haben ist es lediglich eine Frage von wenigen Jahren. Natürlich hören das Diabetiker aus aller Welt schon seit 20 oder gar 30 Jahren, jedoch ist in Zeiten von „Do It Yourself“-Loops dieser Trend nicht mehr aufzuhalten. Die Pharma muss reagieren und nachziehen, denn die Patienten haben es satt vertröstet zu werden und mit wachsenden technischen Möglichkeiten müssen sie das auch nicht zwingend. Hochengagierte Communitys voller Spezialisten arbeiten seit Jahren unermüdlich an ihren ganz privaten Versionen von künstlichen Bauchspeicheldrüsen. Seit Lisa ihren Loop hat ist ihre Lebensqualität rasant gestiegen und sie hat wieder mehr Zeit für andere wichtige Dinge im Leben.
Neue, heile Welt

Die Pharmaindustrie ist mittlerweile durch das Erstarken der Diabetes-Community rund um den Globus zu einem Umdenken gekommen und bezieht im Vergleich zu früher viel mehr die Patienten selbst in die Entwicklungen neuer Systeme mit ein. Das ist keine Selbstverständlichkeit, aber Diabetes ist besonders. Bei keiner anderen chronischen Erkrankung würde der Patient die Dosierung von lebenswichtigen Medikamenten so selbstverständlich autonom verwalten und teilweise seinen ganzen Behandlungsplan in Eigenregie auf den Kopf stellen, um ihn zu optimieren. Ich selbst bin immer wieder erstaunt mit welcher Selbstverständlichkeit ein Diabetiker tagtäglich mit jeder Insulinabgabe über das eigene Überleben entscheidet, ohne groß darüber nachzudenken. Durch diese große Autonomie der Betroffenen ist aber auch deren Expertise gewaltig. Einem Diabetiker braucht man keinen Bullshit zu seiner Krankheit erzählen. Diesen wittert er schon gegen den Wind. Was liegt also näher als bei Neuentwicklungen die aktiven Mitglieder der Community selbst zu fragen, was sie sich von zukünftigen Systemen wünschen? In den letzten Jahren habe ich immer wieder Events von Pharmafirmen in Lisas Terminkalender gesehen. Man kennt sich persönlich und mindestens einmal im Jahr trifft man sich, um die Neuheiten in lockerer Runde zu bequatschen, Workshops anzubieten oder was auch immer zu tun. Ich als Außenstehender sehe diese ganze Geschichte etwas skeptisch, da ich ein misstrauischer Mensch bin. So schön ein solches Event mit sympathischen Vertretern der Pharma auch sein kann, dahinter stehen milliardenschwere Konzerne, deren Kerngeschäft nackte Zahlen sind. Ich selbst hatte vor nicht all zu langer Zeit einmal die Möglichkeit ein solches Event mit zu besuchen. Der Abend war schön und die Menschen allesamt sympathisch und nett, keine Frage. Unterm Strich sucht man den Mehrwert der Veranstaltungen, abseits vom Aufpolieren des eigenen Images der Firma innerhalb der engagierten Community.
Auch wenn Lisa meist euphorisch von solchen Veranstaltungen nach Hause kommt, versucht auch sie immer mehr hinter die Kulissen zu blicken. Coole Events sind die eine Sache, aber ist der Unterhaltungsfaktor wirklich wichtiger als der Informations- und Mehrwert? Nach einigen Jahren Erfahrung wünsch sich Lisa manchmal weniger Aktion und dafür mehr konkretere Schritte in die Zukunft.
Im Interesse des Patienten?

Seit einigen Monaten recherchiere ich immer mal wieder durch die Tiefen des Internets nach Neuerungen und Konzepten abseits der Pharmariesen rund um den Diabetes. Das Zauberwort ist „Biohacking“. Unter diesem Begriff kommt nicht nur die Entwicklung von Loop-Systemen aus bestehender Hardware zusammen, sondern auch technische Neuentwicklungen, wie zum Beispiel der RileyLink, der extra als Schnittstelle eines Loop-Systems entwickelt wurde. Ich bin auch schon über Projekte gestolpert, die in der Entwicklungsarbeit für eigene DIY-Insulinpumpen stecken. Doch ein Projekt machte mich erst einmal stutzig und ließ mich tiefer graben. Das „Open Insulin Project“ treibt das Biohacking auf eine ganz neue Ebene. Wie der Name schon sagt versucht man hier selbst die Prozesse zur Herstellung von Insulin im großen Stil nachzuahmen und so Alternativen zu schaffen. Alles ganz im Sinne von Open Source, immer eine gute und unterstützenswerte Sache. Doch die Hintergründe, die das notwendig machen sind erschreckend. In letzter Zeit liest man immer häufiger davon, dass sich Diabetiker in den USA und auch anderswo auf der Welt ihr Insulin nicht mehr leisten können. Sie sterben, weil sie ihre Medikamente nicht mehr selbst bezahlen können und beginnen diese stark zu rationieren. Das ist die Seite, über die in der heilen Pharma-Welt eher weniger gesprochen wird. Lebhaft habe ich noch ein Zitat in den Ohren, dass mir Lisa nach einer Fabrikbesichtigung zutrug: „Wenn wir Diabetes mit unserer Forschung heilen und unser Unternehmen schließen müssten, dann ist das eben so. Immerhin würden wir in die Geschichte eingehen als diejenigen, die Diabetes geheilt hatben“
Schon beim Niederschreiben musste ich schnauben, denn keine Firma würde sich jemals freiwillig selbst das Wasser abgraben. Allen hehren Idealismus in Ehren, aber verschaukeln kann ich mich selber.
Der gute, alte Kapitalismus

Innerhalb der letzten 20 Jahre sind die drei „Big Player“, namentlich Lilly, Novo Nordisk und Sanofi, fleißig dabei an der Preisschraube zu drehen. Besonders in Industrienationen mit guten Sozialsystemen für die Krankenversicherung scheint das an den meisten Patienten vorbei gegangen zu sein, doch in den USA zeigt sich diese Entwicklung ganz anders. Übernehmen hierzulande die Krankenkassen (bis auf einzelne Zuzahlungen) die kompletten Kosten der Behandlung, so muss man in den USA dafür eine wirklich gute Krankenversicherung haben. Ist man nicht oder nur schlecht versichert, so bleibt man hier auf den Kosten sitzen. Und eben diese Kostenentwicklung will ich jetzt mal in Perspektive setzen.
Seit 1990 ist in den USA der Preis für die Insuline der großen Pharmafirmen um rund 1200% (!!!) gestiegen. In der Herstellung kostet eine Ampulle Insulin circa 3,69 USD bis hin zu 6,16 USD.
Verkauft werden diese Ampullen heute im Schnitt für ungefähr 300 USD. Jeder Vierte Typ 1- Diabetiker in den USA musste inzwischen sein Insulin aus Kostengründen rationieren und zu viele sind an diesen drastischen Maßnahmen auch verstorben.
Kein Mensch sollte sich entscheiden müssen zwischen der Finanzierung seiner grundlegenden Lebensbedürfnisse oder seiner lebensrettenden Medikation.
Die Pharma-Industrie mag in vielen Bereichen inzwischen ernsthaft und aufrichtig bestrebt sein, mit dem Patienten zusammenzuarbeiten und so bessere Produkte zu liefern, aber derartig kaltes Kalkül und wirklich gewissenlose Maximierung der Gewinnmarge widern mich persönlich einfach an. Man riskiert für ein lebensnotwendiges Medikament, für das man Monopolstellung besitzt, willentlich Millionen von Menschenleben. Diese Situation ist nicht nur auf Amerika beschränkt und auch andere, teilweise sehr arme Länder leiden unter chronischem Mangel an sozialer Unterstützung für auch nur die dringenste Notfallversorgung. Weitere Beispiele unterschlage ich an dieser Stelle, da dieser Beitrag schon jetzt sehr lang wird. Recherchiert aber gerne selber. Manche Dinge sind so unglaublich, dass man sie selber lesen muss, um sie glauben zu können.
An dieser Stelle möchte ich gerne in privater Sache an jeden auch nur irgendwie engagierten Menschen mit Kontakten und Ressourcen appellieren sich für gemeinnützige Projekte, wie z.B. www.t1international.com oder www.insulinforlife.org stark zu machen. Schafft dafür ein Bewusstsein, dass wir in der ersten Welt die Privilegierten sind, die nicht wegen einer eigentlich gut zu behandelnden chronischen Krankheit dem Tode geweiht sind, nur weil hier die Krankenkasse die enorm gestiegenen Kosten auffängt. Nicht jeder hat so viel Glück, viele Menschen sterben aus purer Profitgier jeden Tag auf der ganzen Welt.
Gemeinsam sind wir stärker. *drops Mic*

Weitere Links:
Wenn ihr euch für diese Thematik interessiert, schaut euch gerne dieses Film-Projekt von Danny Goodman an. Harte Kost, aber das muss nun mal manchmal sein.
Tom Philips, 29 Jahre, krank.
Diagnose: chronisch. Status: unheilbar.
Das System, das helfen soll entpuppt sich als geldgieriger Feind.
Das eigene Ich transformiert sich zu einem von Paranoia und von
offensiver Ablehnung-getriebenen Selbstmechanismus. System versus Subjekt. Individuum versus Mehrheit. Ist der Kampf
wirklich gegen das System oder ist der Kampf gegen
das eigene ich, gegen die Psyche und ein Ringen um Akzeptanz?
Written and directed by Danny Goodman Director of Photography,
Editing, Color Grading: Andy Kaczé Music by: Yoana von Grimm Sound
Editing: Konrad Janz Set Design: Yasmin Porchert Make Up Artist:
Yana Jurnatan Assistent Director: Milena Flemisch, Marie Senneke
Boom Operator: Gregor Teufel Gaffer: Mohammed Abugeth, Wolfgang
Wolman With: Bastian Scheibe, Anni C. Salander, David Khoshbakht,
Daniel Ahl, Yvonne Ernicke, Tjana Thiessenhusen, Aris Kruschel.
Biohackers With Diabetes Are Making Their Own Insulin
Do-it-yourself insulin: Biohackers aim to counteract skyrocketing prices
Sanders campaign drives diabetes patients to Canada for cheaper insulin
After a century, insulin is still expensive — could DIYers change that?
Diabetic, 27, dies after taking cheaper insulin as he lost private health insurance
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