Triggerwarnung: Dieser Text beinhaltet Symptomatik und Auswirkungen von Essstörungen und Insulin-Purging. Solltest du aktuell an einer Essstörung erkrankt sein, könnte der nachfolgende Text triggernd wirken.
It’s times like these you learn to live again
it’s times like these you give and give again
it’s times like these you learn to love again
it’s times like these time and time again
-Foo Fighters
Times like these ist ein Song meiner Lieblingsband, den Foo Fighters. 2013, nur ein paar Wochen bevor ich in mein ketoazidotisches Koma fiel, ließ ich mir die Zeilen dieses Liedes, das mir schon immer unheimlich viel bedeutete, tätowieren.
In meinen 26 Jahren habe ich schon einige doch recht schwierige Zeiten durchlebt. Doch jedes Mal kam danach auch wieder Sonnenschein.
Dieses Lied erinnert mich an all die Dinge, die ich erlebt habe und die manchmal nicht nur mich, sondern meine ganze Familie auf eine harte Probe gestellt haben.
Noch heute kann ich immer noch nicht sonderlich gut mit Problemen oder dem Tod (mein allergrößter Feind) umgehen, aber ich weiß, dass nach dieser furchtbaren Phase das Leben weiter geht und ich irgendwann wieder lachen und Spaß haben kann.
In jedem Leben gibt es Höhen und Tiefen
und jeder von uns hat sein ganze eigenes Päckchen zu tragen, aber die Meisten von uns sind wirklich stark – das möchte ich noch mal betonen!
Wie ihr auf meinem Blog verfolgen konntet, hatte ich in letzter Zeit wirklich wieder einige Probleme mit meinem Diabetes. Ich fiel (und das ist hier genau das richtige Wort) quasi vom erneuten Insulin-Purging ins Unterzuckerungsloch.
Nachdem ich gut zweieinhalb Wochen mein Insulin völlig weggelassen hatte, da ich mich fett und hässlich fühlte, entschloss ich mich – wieder ein mal – davon loszukommen und wieder zu spritzen.
Funktionierte auch. Ich bekam außerdem die Zuzahlung zum Libre von meiner Krankenkasse genehmigt und von da an lief es richtig gut.
Das ganze hielt ebenfalls gute zweieinhalb Wochen, bevor ich eine schwere Unterzuckerung hatte. Von da an kämpfte ich fast täglich mit weiteren Unterzuckerungen, bis zu einer zweiten schweren Unterzuckerung in der selben Woche.
Es war wie verhext, als könnten mein Körper und ich nur die beiden Extreme leben.
Ich brauche wohl nicht großartig zu erklären, dass mich wirklich der Mut und vor allem auch die Freude verließ.
Ich hatte keine Lust mehr auf den Diabetes.
Er hing mir richtig zum Hals heraus.
Dennoch habe ich es trotz Lustlosigkeit und Angst vor Hypos geschafft nicht wieder ins Purgen zu verfallen und das ließ mich, sogar in meinen Augen, recht stark aussehen.
Als ich dann noch einen Termin bei meiner Diabetologin hatte und diese hin und weg von meiner Basalrate war und meinte, ich gehe die ganze Sache viel zu perfektionistisch an, öffnete sie mir damit tatsächlich die Augen.
Ein perfekter HbA1c, keine Hypos und kein Insulin-Purging, alles auf ein Mal umsetzten zu wollen, war vielleicht wirklich ein bisschen zu viel. Das ich die Angst vor erneuten Hypos im Griff, das Insulin-Purging unter Kontrolle und eine nahezu einwandfrei funktionierende Basalrate hatte, war schon eine Menge. Leider sah ich das vorher nie so.
Schon eine Abweichung von 20mg/dl in meiner Basalrate ließ meine Glocken läuten. „Das liegt total im Rahmen – ich würde da nichts ändern“.
Und ich konnte erst mal durchatmen.
Ich glaube damit bin ich im Moment wirklich über den Berg. Das Insulin-Purging ist grad so unheimlich weit weg. Ich mache Sport, ernähre mich gesund und fühle mich alleine dadurch gesund und fit und gar nicht mehr so fett und hässlich.
Meine Basalrate ist gut so, wie sie ist und ich gebe mein Bestes. Und wenn das nur für eine 8,4 im HbA1c reicht, dann ist das momentan so. Viel wichtiger ist: Keine schweren Hypos mehr! Dafür haben wir auch noch einen ganz anderen Plan, aber dazu später mehr.
Was ich euch damit sagen will.
Keiner verurteilt euch, wenn mal alles schief läuft und ihr keine Lust mehr habt. Ehrlich, das ist normal. Seid nicht so hart zu euch selbst.
Solche Phasen gibt es immer mal und wohl jeder Diabetiker kennt sie. Solange ihr euch aber nicht in wirkliche Gefahr begebt, macht das, was euer Herz euch sagt. Manchmal braucht man einfach eine Pause von dem ganzen Rechnen und Schätzen, Korrigieren und Kontrollieren.
Ich war dieses Mal unglaublich weinerlich, obwohl ich das bisher nie war, wenn es um meinen Diabetes ging. Da war ich manchmal schon fast erschreckend abgeklärt. Wenn es mal nicht rund läuft, werde ich höchstens richtig sauer und genervt. Dann werfe ich auch mal mit Schimpfwörtern und auch Gegenständen um mich.
Nach der ersten starken Hypo war ich sehr weinerlich. Das wiederum nervte mich so sehr, dass ich wieder wütend wurde. Also eine abwechselnde Mischung aus aggressiven verbalen Äußerungen und jammernder, klammender („Lass mich nicht alleine!“) Lisa.
Unheimlich froh bin ich, dass ich so tolle Typ f’ler an meiner Seite habe. Mein Freund, meine Familie und Freunde sind immer unglaublich verständnisvoll.
Wie ist das bei euch?
Wie reagiert ihr, wenn euer Diabetes mal wieder tut was er will und nicht, was er soll? Und wie gehen eure Mitmenschen damit um? Stoßt ihr dort auf taube Ohren oder haben sie vollstes Verständnis?
Ich habe immer Angst, dass mich Leute für einen Jammerlappen halten, deswegen habe ich wohl früh diese eher aggressive Seite aufgebaut. Lieber aggressiv als schwach wirken.
Aber im Ernst, ich könnte es ihnen nicht wirklich verübeln, wenn sie nicht verstehen, was bei uns so abgeht. Woher sollten sie das auch wissen? Woher sollen sie wissen, was für einen 24-Stunden-Job diese Krankheit ist? Ein Full-Time-Job eben, nicht „nur“ das Essen berechnen und spritzen, ab und zu den Blutzucker messen und bei Sport etwas genauer hinsehen? Nein, wenn es nur das wäre, dann würde wohl niemand von uns jammern. Aber das als Außenstehender zu erkennen finde ich enorm schwierig, wenn nicht sogar fast unmöglich.
Nur Menschen, die wirklich einen längeren Zeitraum, Tag für Tag, mit mir zusammengelebt haben, wie mein Freund und meine Eltern können erahnen, wie frustrierend das alles manchmal sein kann.
Das musste ich jetzt einfach noch mal loswerden, nachdem es auf meinem Blog so viele negative Posts gegeben hatte. Ja, ich habe hin und wieder Probleme mit meinem Diabetes. Ja, manchmal falle ich in richtige Löcher.
ABER: ich verliere dennoch nie den Mut und vor allem nicht meine positive Lebenseinstellung und den Spaß am Leben, an dem ich so sehr hänge ( so, wie es ist ;))
es sind Zeiten wie diese, in denen du wieder lernst zu leben
es sind Zeiten wie diese, in denen du gibst und wieder gibst
es sind Zeiten wie diese, in denen du wieder lernst zu lieben (auch den Diabetes ;))
es sind Zeiten wie diese, die immer wiederkehren
rebecca meint
Ein perfekter HbA1c-Wert und nicht in die Hypo kommen, ist ein Ding der Unmöglichkeit…Ich würde mich auch nicht zu sehr an diesen Komponenten „aufhängen“. Ein HbA1c-Wert im Optimum ist noch kein Garant keine Folgeschäden zu bekommen…Das wichtigste ist mit Sicherheit einen Wert zu finden, bei dem man sich wohlfühlt.
Ich glaube auch nicht, dass man fortlaufend einen konstanten HbA1c-Wert erzielen kann. Jegliche Kleinigkeit schlägt doch schon auf den Blutzuckerwert. Diabetes und Perfektionismus sind oftmals leider sehr eng miteinander verknüpft. 100 % in allen Bereichen schafft man nicht. Du solltes von deinen strikten Vorgaben wegkommen.
Tja, und die manchmal wechselnden Gefühlsschwankungen sind auch so eine Sache. Ich denke, dies wird jeder Diabetiker bestätigen können. Leider können Personen, die keinerlei Bezug zu dieser Erkrankung haben, die Sorgen und vor allem den Aufwand oftmals nicht nachvollziehen. Manche hingegen sind aber total interessiert und fasziniert von den neuen Therapieanwendungen.
Meine Diabetesassistentin hat mir mal mitgeteilt, ich könne zudem an meinen Werten sehen welche Menschen mir gut tun. Welche wahrer Satz…
Lisa meint
Da gebe ich dir vollkommen Recht! Ich glaube, ich hatte noch ein Jahr nach meiner Diagnose einen HbA1c mit einer 7 davor. Danach gut 14 Jahre immer zwischen 8-11. 2013 dann über 13. Seit 2013 habe ich 2 HbA1c’s mit einer 7 geschafft, der Wahnsinn für mich, aber immer nur für ein Quartal. Der letzte war dann bei 7,9 und ich habe mich soooo gefreut. Tja, jetzt ist wieder die 8 davor. Ich dachte, ich könnte wenigstens einmal die 7 länger halten, geschweige denn endlich mal unter die 7,6 kommen. Aber ich gebe dennoch nicht auf. Irgendwann schaffe auch ich die 7,6 😀
Ich bin froh, dass ich bisher keine Folgeschäden habe, was man eventuell bei den Langzeitwerten denken könnte. Oft spielt ja auch die Veranlagung noch mit rein. Da habe ich wohl wenigstens Glück. Zumindest bist jetzt. Dennoch würde ich gerne mal die 7,6, schaffen.
Als Kind hatte ich einen Arzt, der mich immer zur Sau gemacht hat, wegen meinem HbA1c und der meinte, es könne nur einzig daran liegen, dass ich mich nicht an das halte, was er mir sagt. In seinen Augen waren ich und meine Eltern die einzigen, die Schuld an den schlechten Werten hatten. Das habe ich irgendwie so mitgenommen und habe noch immer total Bammel vor dem HbA1c 😀
rebecca meint
In der Vergangenheit hat man sich nahezu ausschließlich auf den HbA1c-Wert versteift. Mittlerweile ist man davon abgekommen….Selbst Betroffene mit einem HbA1c-Wert im Optimum leiden an Folgeerkrankungen…Also können die „alten Weisheiten“ nicht ganz so stimmen. Die Veranlagung bzw. Genetik spielt hier mit Sicherheit die Hauptrolle. Leider ist ja hierzu noch nicht allzuviel bekannt. Zudem besitzen oftmals Akteure ein völlig veraltetes Fachwissen. Man sollte auch nicht vergessen, dass sich der HbA1c-Wert mit steigender Erkrankungsdauer nicht mehr so optimal erzielen lässt.
Aber die „Zeiten mit dem Zeigefinger“ waren wirklich keine angenehmen…Hat schon irgendwie etwas auf der Seele hinterlassen…Den „Endspurt“ bis zur Einführung der künstlichen Bauchspeicheldrüse halten wir aber noch durch…