Triggerwarnung: Dieser Text beinhaltet Symptomatik und Auswirkungen von Essstörungen und Insulin-Purging. Solltest du aktuell an einer Essstörung erkrankt sein, könnte der nachfolgende Text triggernd wirken.
Jeder geht anders mit seinem Diabetes um. Einige kommen super damit zurecht, andere haben immer wieder zu kämpfen. Das hat natürlich mit dem Zeitpunkt und dem Alter bei der Diagnose zutun. Und auch, wie die Lebensumstände gerade sind.
Demnach war der Zeitpunkt meiner Diagnose eigentlich perfekt. Ich war 10 und das Ganze war mehr ein spannendes Abenteuer, als alles andere. Mein Bruder hatte schließlich Diabetes seitdem ich ihn kannte und dem ging es gut. Was sollte also schlimm daran sein?
Die ganze Tragweite wurde mir später bewusst.
Nach 16 Jahren Diabetes mit Höhen und Tiefen, sehe ich das Ganze doch sehr anders.
Diabetes kann einen manchmal ganz schön fertig machen. Immer wieder sehe ich voller Neid auf die, die im großen und ganzen super mit ihrem Diabetes klar kommen, ihn akzeptieren und nicht regelmäßig in schwarze Löcher fallen, weil der Diabetes sie nun nie mehr verlassen wird. Ich bewundere diese Menschen wirklich, denn ich selbst habe regelmäßig Momente, in denen ich glaube den Verstand zu verlieren, aus Angst vor der Zukunft mit dem Diabetes.
Da ich aber eigentlich ein positiv denkender Mensch bin und das Leben liebe, versuche ich mir selbst regelmäßig vor Augen zu führen, wie gut man heute mit dieser Krankheit leben kann und das es eigentliche keinen Grund für mich gibt, so voller Angst zu leben.
Deswegen schreibe ich auch Motivationsposts. Natürlich für euch alle, aber auch, damit ich mich selbst regelmäßig an die guten Seiten erinnere und nicht den Mut verliere.
Und das klappt auch ganz gut.
Dennoch kann ich nichts gegen die Momente tun, in denen ich mir so hilflos und klein dem Diabetes gegenüber fühle.
Seit Mitte Januar bin ich in Therapie
Durch meine Psychotherapie mache ich mir in letzter Zeit viele Gedanken darüber, woher das kommt.
Wieso hatte ich zunächst keinerlei Probleme mit meiner Krankheit und bekam erst später mit jedem Jahr mehr Akzeptanzprobleme?
Schon im Alter von 14 bis 21 war ich bei einer Jugendtherapeutin. Auch damals wurde hin und wieder der Diabetes angesprochen, war ja klar. Aber ich entgegnete jedes Mal: „Ich habe den Diabetes nun schon so lange, ich weiß doch gar nicht mehr, wie es ohne ist. Wahrscheinlich würde dann sogar etwas fehlen. Ich habe keine Probleme mit dem Diabetes.“ Ich wollte das gerne glauben und hatte es mir selbst ganz gut eingeredet.
Aber ich dachte zu der Zeit ja auch nie groß über den Diabetes nach. Tiefergehende Gedanken zu dieser Krankheit wollte ich gar nicht haben. Das ist mir heute bewusst. Und noch mehr: Ich glaube mittlerweile stark daran, dass ich diesen Standardspruch sagte, damit meine Therapeutin das Thema einfach auf sich beruhen lässt und nicht weiter nachhakt. Das hat auch gut funktioniert.
Ich hatte meine Ruhe, was den Diabetes anging – in jeder Hinsicht! Dafür sorgte ich schon.
Bei meiner jetzigen Therapie wollte ich alles anders machen, Immerhin hing die Telefonnummer nun fast vier Jahre an meiner Pinnwand. Ich starrte sie regelmäßig an und griff hin und wieder zum Telefon. Wählte die Nummer aber nie. Ende letzten Jahres fasste ich mir ein Herz, bestärkt durch meine Diabetologin, meinen Freund und Freunde.
Bekannte Situationen.
Nun saß ich endlich hier, wieder auf so einem Stuhl, ein anderer mir gegenüber. Dadrin wieder eine Frau, mit Block und Stift und einem erwartungsvollen Blick. Mir wurde übel. Auf einmal war mir wieder klar, warum ich so lange zum Anrufen gebraucht hatte. Am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen. Hätte das ganze wieder vergessen. Wie immer.
Nein, ich musste das jetzt schaffen. Und dann fing ich an zu reden. Ich war von mir selbst überrascht, wie gut es lief. Ich erzählte gleich von meinem Diabetes, dem Koma und der Angst zuzunehmen. Das ging plötzlich erstaunlich leicht. Ich brach nicht in Tränen aus, nur mein Herz schlug mir bis zum Hals und meine Hände waren schweißnass. Egal, so ging das schon.
Dann kamen Fragen. Fragen über dies und das und mir wurde klar: du musst darüber reden! Jetzt! Wenn du es nicht jetzt in der ersten Stunde sagst, dann wirst du es niemals sagen und dann wird es wie bei der ersten Therapie.
Noch ein Schritt persönlicher
Ich erzähle euch jetzt etwas, dass bisher keinen Platz auf diesem Blog gefunden hat.
Denn es geht nicht um den Diabetes und es ist so privat, dass ich bisher fand, es hat hier nichts zu suchen. Aber seit dem ich in Therapie bin, wird mir immer mehr bewusst, dass ich lernen muss über dieses Thema zu reden, mich mit ihm auseinander zu setzten. Vielleicht ist genau dieses Thema sogar der Auslöser für alles andere?
Auf der einen Seite hoffe ich, dass ihr mich jetzt nicht verurteilt, weil ich so private Sachen im Internet veröffentliche, auf der anderen Seite denke ich mir: „denkt doch was ihr wollt!“
Dieser Blog ist mein Ventil. Hier kann ich alles niederschreiben was mich bewegt, mir selbst Luft schaffen und Druck abbauen und es hilft mir ungemein. Jeder geht anders mit seinen Problemen um und ich gehe jetzt diesen Weg. Mein Leben lang habe ich dieses Thema nur mit mir selbst ausgemacht. Nicht mit meinem Freund oder meiner Familie, nur mit mir und meinen Gedanken. Die Therapie zeigt mir, dass das falsch war und dass ich darüber reden muss.
„Du hast gesagt dein älterer Bruder hat auch Diabetes. Hast du noch andere Geschwister?“
„Ich… ehm… hatte noch einen Bruder“
Und dann war es wieder vorbei. Einen Moment zuvor fühlte ich mich noch stark, als könnte ich nun endlich etwas ändern, als sei ich mittlerweile eine andere, eine stärkere Person als früher. Aber nein, nun saß ich wieder dort, in diesem Stuhl, dieser Frau gegenüber und brach in Tränen aus.
Mir gegenüber sah ich diesen mitleidigen Blick, der mich immer rasend macht. Ich kann nichts weniger ausstehen als Mitleid. Und das bekam ich immer, wenn jemand von dieser Geschichte erfuhr. Einer der Gründe, warum ich es lieber für mich behielt. Ich wollte kein blödes Mitleid von wildfremden Personen. Weder wegen dieser Geschichte noch wegen dem Diabetes, Herrgott! Ändert doch sowieso nichts!
Ich schluckte und versuchte zu atmen. Mit gebrochener Stimme brach ich es endlich hervor:
„Ich hatte noch einen Bruder. Bastian. Er war ein Jahr jünger als Jan. Er starb mit 16 bei einem Verkehrsunfall.“
Dann konnte ich für die nächsten 10 Minuten nicht weiter reden.
„Ich war 7. Meine Eltern haben viele Freunde und waren immer viel unterwegs. Am Wochenende viel feiern. Bastian brachte mich dann immer ins Bett. Er war schon eine Bezugsperson für mich.
An dem Tag als er starb weinten alle. Ich hatte meine Eltern vorher nie weinen gesehen, an dem Tag hörten sie gar nicht mehr auf. Ich war klein, ich verstand das nicht wirklich, ich wollte nur, dass sie aufhörten zu weinen. Ich machte Witze und Späße, wollte sie aufmuntern. Irgendwer musste das doch tun. Seitdem habe ich nicht wieder über Bastian geredet. Ich habe immer noch Angst, dass sie wieder weinen. Deswegen lass ich dieses Thema.“
„Deswegen machst du auch alles nur mit dir aus. Du willst deine Eltern nicht noch mehr belasten. Du hast immer noch das Gefühl ihnen eher etwas abnehmen zu müssen, als noch etwas drauf zu packen. Du sagst nicht, wenn es dir schlecht geht. Du willst nicht, dass deinen Eltern sich sorgen. Deswegen sagtest du auch nach der Diabetes-Diagnose: „das ist doch gar nicht schlimm!““
Sie brachte es genau auf den Punkt.
So war es schon immer und so ist es noch heute.
Ich verinnerlichte das als Kind so sehr, dass ich heute kaum mit Leuten über meine Probleme und Gefühle reden kann. Ich will niemanden belasten. Ich weiß, dass alle anderen auch so ihre Päckchen zu tragen haben. Da muss ich nicht noch mit meinem Zeug ankommen.
So handhabte ich das auch mit dem Diabetes. Was hätten meine Eltern schon ändern können, wenn ich gesagt hätte „der Diabetes ist blöd, ich will das nicht mehr!“ Nichts hätten sie ändern können, sie hätten sich nur wieder Sorgen gemacht.
Vielleicht gehört das alles mit dazu, dass ich heute manchmal Probleme habe, mir ein Leben mit dem Diabetes vorzustellen. Ich fühle mich alleine und hilflos. Weil ich immer alleine war, dadurch, dass ich nie Probleme geteilt habe. Ich habe sie nur in mich reingestopft und andere Ventile gesucht um diese Gefühle wieder herauszulassen. In der Jugend mit viel Alkohol, Feiern, Rebellion und sehr selbstzerstörerischem Verhalten. Im Studium dann durch das Insulin-Purging.
Ob das alles anders gelaufen wäre, wenn mein Bruder noch hier wäre? ich weiß es nicht genau. Um ehrlich zu sein, ist es jetzt ziemlich einfach zu sagen „Ja, das ist der Grund für alles“. Wahrscheinlich ist es nicht so. Aber ich glaube schon, dass es zu einem großen Teil dazu beigetragen hat.
Warum ich das alles erzähle?
Erstens, weil mir durch die Therapie klar wurde, dass ich darüber reden muss und außerdem:
Diabetes-Symposiom von Lilly in Kassel
Vergangenes Wochenende war ich mit meiner Diabetologin auf einem Diabetes- Symposiom von Lilly in Kassel.
Sie hielt einen Vortrag über Insulin-Purging und ich durfte auch mit machen. Ihr Vortrag schockierte mich dann unheimlich. Es gab Dinge, in denen ich mich eins zu eins wieder fand und da fühlte ich mich echt richtig schlecht. Wirklich schlimm wurde es allerdings bei einigen Fallbeispielen, die so abschreckend waren, dass ich es kaum in dem Raum aushielt. Ich hatte Angst, dass mir das auch noch bevor stehen könnte. Zwar war ich dann doch nicht so „krass“ wie die anderen, dennoch bekam ich panische Angst vor den Folgen.
Und mich schockierte, dass diese Mädchen trotz ihrer Folgeerkrankungen immer weiter machten. Mir hat der „Arschtritt“ des ketoazidotischen Komas echt gereicht. Es hat mir die Augen geöffnet, auch wenn es noch schwierige Tage gibt.
Mir wurde klar, Diabetes kann richtig gemein sein! Wenn du mit der Diagnose nicht zurecht kommst oder vielleicht noch etwas anderes in meinem Leben passiert, dann ist es so einfach in so einen Teufelskreis zu gelangen und dann wird es richtig gefährlich und übel. In dem Moment war der Diabetes wirklich beängstigend. Ich konnte mich sehr gut in diese Mädchen hinein fühlen (kein Messgerät, Tagebuch nur Fake und Ausreden warum die Pumpe oder der Pen nicht funktionierte) – und immer weiter weg rückte das Verständnis für diejenigen, die so gut damit zurecht kamen.
Nach dem Vortrag war ich ganz hin und her gerissen zwischen „Wie konnten diese Mädchen das nur tun?“ und „Wie schafft man es bloß keine Angst vor dem Diabetes zu haben?“
Das beschäftigte mich noch den Rest des Abends.
Und all das bestärkte mich in dem Gedanken: Wir müssen etwas tun! Wir müssen dafür sorgen, dass Diabulimie mehr in den Fokus rückt. Dass Angehörige, Betroffene und Ärzte besser aufgeklärt werden. Wir müssen Betroffenen helfen daraus zu kommen. Ihnen zeigen, dass man es schaffen kann und das sie nicht alleine sind!
Dafür werde ich mich in Zukunft versuchen vermehrt einzusetzen. Auch um selbst den Kampf gegen diese Gedanken weiterhin zu bestreiten.
Beate meint
Hallo Lisa,
danke für den Einblick. Ich wünsche dir weiterhin viel Kraft und Mut, um für dich zu sorgen.
Du hast absolut Recht, dass du deine Geschichte hier teilst – authentisch und wertvoll! Lea hat auch etwas wichtiges angesprochen: aussschließlich Friede-Freude-Eierkuchen gibt’s nirgendwo, warum sollte es auf den Blogs so sein? Ich glaube, ein großes Thema ist das Stichwort Resilienz – es geht nicht darum, ob ich Rückschläge erfahre (die habe ich so oder so), sondern, wie ich damit umgehe. Da gilt’s dann eben auch, ständig zu reflektieren & neue Strategien zu finden. Wäre schön, wenn dir die Therapie dabei helfen kann 🙂
Viele Grüße und bis bald, Beate
Nicole meint
Liebe Lisa, ich bewundere deine Offenheit und danke dir für diesen tollen Blogbeitrag. Eine Therapie ist keine Schande ich bin gerade auch wieder am überlegen ob ich nochmal eine starte. Dieses „alles mit sich alleine ausmachen“ kenne ich nur zu gut. Ich habe es auch durch familiäre Schicksalsschläge erlernt, wollte immer unoroblematisch für die Eltern sein, sie hattens eh schon schwer genug. Dieses Verhalten macht einsam, man zieht sich immer mehr zurück und kann irgendwann sogar gar keine sozialen Kontakte mehr pflegen.
Es wird Zeit, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Danke, dass du dazu beigetragen hast mich wach zu rütteln.
L.G. Nicole
(Typ 1 seit fast 12 Jahren)
Lea meint
Liebe Lisa,
Ich finde es gut und wichtig, auch über solche Themen zu schreiben!
Würde auf unseren Blogs immer nur Friede-Freude-Eierkuchen herrschen, wäre das auch gar nicht authentisch.
Eine chronische Erkrankung ist nicht immer einfach zu bewältigen, man ist einfach psychisch belastet, auch wenn das Leben ansonsten ganz gut weiterläuft.
Du weißt ja, dass ich auch in Therapie und sogar auf einer psychosomatischen Station war – ich denke, es wird mal Zeit, dass ich auch davon berichte.
Denn es ist ja nichts, wofür man sich schämen muss!
Dein Post wird sicher auch vielen anderen Betroffenen Mut machen 🙂
Liebe Grüße und ganz viel Kraft <3
Lea