Triggerwarnung: Dieser Text beinhaltet Symptomatik und Auswirkungen von Essstörungen und Insulin-Purging. Solltest du aktuell an einer Essstörung erkrankt sein, könnte der nachfolgende Text triggernd wirken.
“Du siehst gar nicht aus als hättest du Diabetes. Du bist ja gar nicht dick!“, oder “hättest du dich mal gesund ernährt“. Solche Sprüche können als Mensch mit Typ 1 Diabetes zermürbend sein, besonders, wenn man sie immer und immer wieder hört und sich selbst permanent erklären muss.
Mein Name ist Lisa und ich bin heute 28 Jahre alt. Seit meinem 10ten Lebensjahr habe ich Typ 1 Diabetes. Als Kind war ich immer unheimlich schlank und sehr sportlich. Schon damals wollte ich auf keinen Fall so aussehen, wie sich heute leider noch viele Menschen Diabetiker vorstellen. Durch mangelnde Informationen und falsche Berichterstattungen stellen sich die meisten Menschen Diabetespatienten alt und dick vor. So verallgemeinern kann man diese Krankheit jedoch nicht, besonders wenn auch der Typ 1 Diabetes eine Rolle spielt.
Anders als Typ 2 Diabetes ist Typ 1 eine Autoimmunkrankheit. Die Antikörper im Blut richten sich gegen den eigenen Körper und zerstören die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse vollends und unwiderruflich. Da helfen weder Sport noch eine gesunde Ernährung. Es trifft dich, oder eben nicht und du kannst gar nichts dagegen tun.
Die vielen Vorurteile über Diabetes, die bis heute noch in vielen Köpfen verankert sind, führten bei mir schon im Kindesalter zur Rebellion. Ich wollte unbedingt schlank sein und ein anderes Bild von Diabetes in die Welt tragen.
Das kleine Monster Pubertät
Als ich dann in die Pubertät kam, änderte sich mein Körper radikal – und auch der Diabetes machte mir mehr und mehr Probleme. Durch die Hormone war die Krankheit teilweise unberechenbar. Nachts fielen meine Blutzuckerwerte so stark ab, dass ich mehrmals etwas essen oder trinken musste. Ich nahm zu – und zwar enorm. Den Diabetes verfluchte ich deswegen und fing an ihn zu ignorieren. Kein Insulin, keine Unterzuckerungen. Meinen Körper hasste ich immer mehr und versteckte ihn schließlich unter weiten Anziehsachen. Einige Jahre igelte ich mich ein und aß aus Frust noch mehr. Irgendwann machte es dann klick. Ich wollte wieder richtig leben, mich nicht mehr verstecken und mich nicht mehr schämen. Also begann ich erneut mit Sport und achtete auf meine Ernährung. Ich wollte wieder aussehen wie früher. Zuerst feierte ich zwar Erfolge, aber sehr schnell stagnierte mein Gewicht. Es blieb, wo es war und ich fiel erneut in ein Loch. Da erinnerte ich mich an die Zeit vor meiner Diabetes- Diagnose. Damals versuchten meine Eltern und ich alles, damit ich endlich an Gewicht zunahm. Und trotzdem wurde mein Gewicht immer weniger. So lange, bis ich weinend vor meinem Essen saß.
Das, dachte ich, genau das will ich wieder. Weinen, weil ich zu dünn und nicht zu dick bin. In meinem Kopf entstand eine unrealistische und idealistische Vorstellung.
Insulinpurging (purging = weglassen, auslassen) zählt zu den gefährlichsten Essstörungen, da sie extrem schnell außer Kontrolle geraten kann. Das lebenswichtige Hormon wird drastisch verringert oder ganz weggelassen, die Blutzuckerwerte steigen, der Körper übersäuert und die Glukose aus der Nahrung wird über die Nieren ausgeschieden. Werden hohe Blutzuckerwerte zum Dauerzustand können schwerwiegende Folgeerkankungen auftreten. Diese führen von Amputationen und Erblindung durch Gefäßverengungen bis hin zum ketoazidotischen Koma (Übersäuerung des Körpers) mit multiplem Organversagen und schließlich zum Tod.
Insulinpurging: „Ich habe alles unter Kontrolle“
Natürlich kannte ich all die Risiken, aber ich ignorierte sie. Schob sie einfach ganz weit weg, sodass ich nicht mehr darüber nachdenken musste. Ich wollte wieder schlank sein und das zählte mehr. Außerdem würde ich das nur solange machen, bis ich mein Wunschgewicht erreicht hätte. Das dachte ich damals.
Also verringerte ich mein Insulin immer mehr, bis ich nur noch spritzte, wenn es mir körperlich richtig schlecht ging.
Meine Haare wurden dünn und brüchig, genau wie meine gelbanlaufenden Nägel. Ich bekam Neurodermitis und war permanent müde und aus der Puste. Insulin spritzte ich jedoch nur, wenn es schwer wurde Luft zu bekommen oder ich mich übergeben musste.
Es passierte aber auch genau das, was ich wollte: Ich nahm ab und bekam sogar noch Komplimente. Die ganze Zeit dachte ich, ich hätte alles unter Kontrolle. Bevor etwas Schlimmeres passieren würde, würde ich einfach Insulin spritzen. Doch so einfach war es am Ende nicht. Irgendwann war ich so schwach und geistig benebelt, dass ich nicht mal mehr verstand, dass mein körperlicher Zustand durch Insulin verbessert werden würde.
Wendepunkt diabetisches Koma
Eines Morgens wachte ich auf, nachdem ich mich in der Nacht mehrmals übergeben hatte, und fühlte mich extrem schwach. Ich rang nach Luft und fragte meine beste Freundin, mit der ich damals zusammenwohnte, ob sie mich zum Arzt fahren würde. Doch ich schaffte es nicht einmal bis zur Haustür. Ich bekam keine Luft und dachte, ich müsste ersticken. Der erste Krankenwagen unternahm nichts, erzählte mir nur, ich hätte eine Panikattacke und solle mich ausruhen und schlafen legen. Das tat ich. Gegen 11 Uhr legte ich mich hin – und erwachte erst um 1 Uhr nachts. Ein fremdes Gesicht sah mich an, ich hatte überall Schläuche und Kabel, meine Klamotten waren weg. Ich lag auf der Intensivstation. „Schön, dass du bei uns bist, Lisa. Wir waren uns nicht sicher ob… aber jetzt bist du ja wach und wir kümmern uns gut um dich.“
Ich verstand erst mal gar nichts. Alles was ich dachte war: „Meine Eltern, ich muss sie anrufen!“ Aber sie waren längst informiert und als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, sah ich meine Mutter. Ich sah von ihr zu meinem Vater, beide hatten Tränen in den Augen. Was habe ich getan? Von dem Moment an war mir klar, dass ich so nicht weitermachen konnte.
Nach zwei Wochen Intensivstation durfte ich das Krankenhaus verlassen, unter der Bedingung noch am selben Tag zu einer Diabetologin zu gehen.
Mein Blog ist meine Therapie
Wenig später begann ich einen Internetblog und erzählte meine Geschichte. Mich erreichten zahlreiche Nachrichten und ich erkannte, dass ich mit meinen Gedanken und Problemen nicht allein war. Ich lernte auch, dass all das nichts Neues war. Diabulimie nennt sich diese gefährliche Krankheit und das, was ich getan hatte, nämlich das Insulin wegzulassen, um abzunehmen, bezeichnet man als Insulinpurging. Ich musste erkennen, dass umheimlich viele, gerade junge Menschen mit Typ 1 Diabetes, betroffen waren und dass die Krankheit von Ärzten dennoch kaum diagnostiziert wird. Oft werden die hohen Blutzuckerwerte als schlechte „Phase“ abgetan.Seitdem habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, über Diabulimie zu schreiben und zu sprechen. Denn nur, weil wir dieses Thema totschweigen, wird es nicht verschwinden.
Und so ganz nebenbei mache ich selbst eine Psychotherapie, sehe meine Diabetologin alle drei Monate und versuche die bösen Gedanken in meinem Kopf unter Kontrolle zu bringen. Denn noch heute, vier Jahre nach meinem Zusammenbruch, ist es hin und wieder immer noch verlockend, das Insulin wegzulassen. Es ist ein langer Prozess und ob man jemals wirklich frei von diesen Gedanken sein wird, bezweifle ich. Aber man kann versuchen mit dieser dunklen Seite zu leben und ihr nicht die Oberhand zu lassen. Letztendlich kann ich heute sogar anderen Betroffenen helfen und das hilft mir hinter all dem einen Sinn zu finden.
Jörg Lohse meint
Hallo Lisa,
es mag zwar etwas komisch klingen, aber mir hat gerade meine Diabeteserkrankung geholfen endlich abzunehmen. Was ich über viele Jahre nicht geschafft hatte. Bei mir wurde Ende 2017 Typ2 festgestellt. Daraufhin verbannte ich (soweit möglich) jeglichen Zucker aus meinem Leben. Noch bevor sich mein LZ-BZ verbesserte purzelten bereits die ersten Pfunde. Das wiederum wirkte sich positiv auf meinen BZ aus. Inzwischen konnte ich meinen LZ-BZ nur durch eine dauerhafte Ernährungsumstellung wieder in den Normbereich bringen und muss keine Medikamente mehr nehmen. Bei TYP1 stelle ich mir vor kann man bestimmt auch eine Art Normalität erreichen wenn der Betroffene weis wie sein Körper auf bestimmte Lebensmittel reagiert. Allerdings stelle ich mir das Ausrechnen von BE, KE und Insulineinheiten sehr kompliziert vor. Ich hoffe dass due weiterhin so stark sein kannst wie du es jetzt bist und mit deinem Blog anderen Betroffenen Unterstützung bieten kannst.
Nina meint
Hallo Lisa,
erstmal ein großes Dankeschön, dass du dich hier mitteilst, eben weil es nötig ist das Betroffene nicht schweigen. Ich habe schon viel auf deinem Blog gelesen. Wohl auch das erste Mal von Diabulimie.
Bin 28 und habe seit 6 Jahren Typ1. Momentan mit ICT und mittlerweile fühle mich endgültig überfordert. Habe nach der Diagnose eine atypische Essstörung entwickelt, auch weil ich frustriert war von meinen stark schwankenden Werten und einem damaligen schlechten Arzt. Hatte 2 Jahre kein Basalinsulin zb…
Es gab bisher immer wieder Phasen in denen ich ins Insulinpurging&Diabulimie falle und ich kenne dann auch diese Scham mich mitzuteilen. Da ich sehr sensibel auf hohe und tiefe Werte reagiere, geht es mir auch entsprechend dreckig. Diese werden dann abgelöst von Phasen der zwanghaften Kontrolle und Kohlenhydratvermeidung wo es nur geht. Habe mittlerweile 2 verschiedene Basalinsuline (Dawn Phänomen), kontrolliere meinen Bz zurzeit penibel und hab das Gefühl der Diabetes und die zusammenhängende Esstörung kontrolliert und isoliert mich. Habe durch konsequenten Verzicht 2015-16 26 kg abgenommen und wog nur noch 48kg… Das Gefühl will ich nicht nochmal erleben. Aber ebenso nicht das Gefühl von 76kg und dem HBA1 von 12…
Momentan wiege ich echt alles ab, kontrolliere, Stelle mir Wecker… seit April. Dadurch ist der hba1 von 11 auf 7 runter und ich aber auch wieder 16kg verloren… so soll es nicht weiter gehen. Mir fehlt jegliche Balance und Leichtigkeit. Ebenso alle Lust auf Essen, wenn ich nur daran alles zu berechnen, mich wie ausgegrenzt zu fühlen, auf den sea zu warten und den anderen beim pizzaessen zuzuschauen, während ich seit einem Jahr keine gegessen hab.
Habe jetzt gelesen das Essstörungen und Depressionen in zu den Kontraindikatoren gehören, wenn ich eine Insulinpumpe beantragen will (und das hatte ich vor) und bin jetzt ziemlich am Boden, da ich Angst habe, dass der Antrag abgelehnt wird.
Kann das wirklich passieren?
Das musste jetzt einfach raus. 🙁
Lieben Gruß