Prolog – ein Hauch von Epiphanie
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich wieder mal einen dieser „Momente der Klarheit“. Jeder kennt sicher das Gefühl, wenn man einen Gedankenblitz zu einer bestimmten Sache hat und sich dieses unverschämt toll anfühlende „Aha!“-Erlebnis einstellt. Besonders befriedigend empfinde ich diese Erlebnisse, wenn es dabei um mich persönlich geht. Man hat in solchen Momenten das Gefühl ein Puzzlestück des Lebens eindeutig erkannt und richtig platziert zu haben – viel besser kann ich das Gefühl aus meiner Sicht nicht beschreiben.
Ich hatte also wieder einmal einen dieser Momente und erkannte schlagartig, dass nach all den wunderbaren Jahren mit Lisa mein Status als Typ F mich und mein ganzes Wesen nachhaltig verändert hatte. In einer Beziehung entwickelt man sich persönlich natürlich immer weiter, aber in dieser kleinen Epiphanie ging es rein um den Diabetes als solchen und seine Auswirkungen auf mein Leben.
Für den einen oder anderen mag das jetzt nach höchst prätentiösem Gelaber klingen, aber vorher war mir der ausschließlich positive Effekt auf mich gar nicht bewusst.
Man wächst an seinen Aufgaben

Rückblickend war ich am Anfang unserer Beziehung Lisas Diabetes gegenüber nicht ängstlich, aber ich hatte enormen Respekt davor. Man kennt das übliche Halbwissen der Allgemeinheit zum Thema Diabetes ja zur Genüge. Auch ich war zu dem Zeitpunkt keine Ausnahme. Deshalb ließ ich Lisa diesbezüglich auch ihre Privatsphäre. Für mich war das gefühlt etwas zu Persönliches, als das ich mir das Recht einfach herausnehmen wollte mich „einzumischen“. Da Lisa zu dieser Zeit auch noch mitten im Insulin-Purging steckte, war sie zum Thema Blutzuckerwerte und einem ab und zu gefragten „Wie läuft‘s?“ grundsätzlich eher wortkarg eingestellt. Ich spürte einfach, dass das ihr Ding war und mich nicht zu interessieren hatte.
Als dann ihre Ketoazidose kam und sie daran fast gestorben wäre, wurde mir das erste Mal die tatsächliche Gefahr und Tragweite der Krankheit bewusst. Vorher wirkte der Diabetes zwar unangenehm, aber Lisa schien die Sache mühelos im Griff zu haben. Natürlich wirkte es so, weil sie sich absolut null darum kümmerte und sporadisch alle paar Tage nach Gefühl spritzte, um wieder in messbare Bereiche vorzustoßen. Auf mich als nicht Betroffenen wirkte es zumindest sehr entspannt und nicht sonderlich gefährlich Diabetes zu haben – zumindest so lange das Ganze gut gegangen ist.
Mir war nach der ärztlichen Erklärung einer Ketoazidose vollkommen klar was vorgefallen war. Im Prinzip war das Purging eine voll entwickelte Essstörung. Lisa brauchte jetzt Hilfe und besonders eine emotionale Stütze, um dagegen kämpfen zu können. Ich wusste, dass ich ab sofort mit ihr zusammen den Diabetes überwachen muss. Sonst würde Lisa auf Kurz oder Lang in alte Muster zurückfallen und sich entweder schwer schaden oder gar daran sterben.
Diabetes Typ 1 und Typ F auf Augenhöhe

Lisa sagt oft, dass sie sich schlecht fühlt, weil ich mich so engagiert um eine Krankheit kümmere, die mich gar nicht betrifft. In Wahrheit tue ich das nicht nur für sie, sondern auch für mich selbst und mein eigenes Seelenheil. Damals plagte mich ein wirklich schlechtes Gewissen. Retrospektiv hatte ich zum Beispiel die Geruchsnote von Aceton an ihr während des Purgens mehrfach deutlich festgestellt. Aber mangels Hintergrundwissen habe ich nie nachgebohrt oder einfach mal recherchiert, was es damit auf sich haben könnte. Ehrlich gesagt schockierte mich das an mir, denn immerhin war und ist Lisa der wichtigste Mensch in meinem Leben. Wenn ich auch sonst an all ihren für mich neuen Hobbies und Dingen reges Interesse zeigte, so hatte ich Depp das Wichtigste ignoriert. Das, was sie im Ernstfall das Leben kosten könnte. Eine späte Erkenntnis – aber besser spät, als nie. Mir war da schmerzlich bewusst geworden, wie hilflos ich im Ernstfall gewesen wäre. Kein Szenario stellte sich mir im Kopf schrecklicher dar, als vor einer zusammengebrochenen Lisa zu stehen und nicht zu wissen, wie man ihr helfen könnte und woran es gerade liegt.
Ich beschloss dies zu ändern und bat Lisa ihre Diabetologin zu fragen, ob ich bei der nächsten Schulung als Gast zuhören und lernen dürfte. Ihre Diabetologin erlaubte es mir nicht nur, sie war auch ganz aus dem Häuschen mal einen Angehörigen schulen zu dürfen – offenbar und sehr zu meiner Verwunderung eher eine Seltenheit. So begann in den nächsten Jahren eine Art Teamwork zwischen Lisa und mir. Heute maße ich mir die Behauptung an, über sehr fundiertes Fachwissen rund um Diabetes mellitus in seiner Gänze zu verfügen. Zumindest Lisa sagt öfters, dass wir vom Wissensstand inzwischen auf Augenhöhe sind.
Zugegeben, das hat etwas gedauert, aber niemals empfand ich es als anstrengend oder nervig. Ich war eher fasziniert, wie viel Wissen ich mit der Zeit als eigentlich unbeteiligter Typ F‘ler zusammenhorten konnte. Inzwischen schätze auch ich mit Leichtigkeit BEs und weiß in eigentlich jeder Situation richtig und schnell zu reagieren. Mir war es besonders wichtig wirklich alles selbst zu beherrschen, um Lisa so keinen Spielraum für eventuelle Rückfälle und Mogeleien zu lassen. Nicht, dass ihr nicht vertrauen würde, aber schon das Wissen, dass ich einen Beschiss sofort erkennen würde, diszipliniert und motiviert sie dran zu bleiben.
Die Bosstransformation – Peter 2.0

Viele wichtige Dinge und Lebensweisheiten habe ich inzwischen durch Lisas Erkrankung gelernt. Jetzt freue ich mich darüber, mich mit dem Diabetes intensiv beschäftigt zu haben. Heute nennt man das gerne „Soft Skills“, aber tiefer gehend hat sich dadurch meine Lebensphilosophie insgesamt verändert.
Neben all dem Wissen um biologische und medizinische Hintergründe und Prozesse im Körper, fand ich auch die Technik und besonders alles rund um die richtige Ernährung sehr interessant und auch für mich nützlich. Besonders die Technik erleichtert Lisa heute das Leben und ermöglicht mir durch einen Blick in Dexcom Share immer einen Überblick über die Werte zu behalten. Die Wichtigkeit einer gesunden Ernährung und wie diese überhaupt aussieht wird gerne unterschätzt, denn die Wenigsten wissen jenseits von „Obst und Gemüse sind gesund!“ weiter, worauf es eigentlich ankommt.
Man lernt den Wert seiner Gesundheit durch den Blick auf den Diabetes ganz neu zu bewerten. Ich bin mir bewusst, wie glücklich ich sein kann keine gravierenden chronischen Leiden mit mir rumzuschleppen.
Außerdem habe ich einfach viel mehr Respekt und Anerkennung für jeden, der sich dem täglich stellt und dran bleibt – ob er nun Bock hat oder nicht, eine Wahl hat er genauso wenig. Auch Lisa hat mir unterbewusst vieles beigebracht. Heute bin ich ein viel aufmerksamerer Beobachter und Zuhörer, als ich das noch vor einigen Jahren war. Ich habe regelrechte Antennen entwickelt und spüre noch die kleinsten Spuren von Stress oder Unmut in jeder Stimme, da dies bei Lisa oft genug ein Zeichen für eine sich anbahnende Hypo sein konnte.
Heute hilft mir dieses soziale Gespür und die entwickelte Beobachtungsgabe täglich. Früher umgab mich oftmals auch eine gewisse Leichtigkeit des Seins. Ich sehe das Leben auch heute noch locker und genieße lieber, anstatt mir grundlos Sorgen zu machen. Dennoch bin ich insgesamt viel disziplinierter und organisierter geworden. Man unterschätzt als Typ F auch oft, was für ein Rattenschwanz dieses Vorausplanen für z.B. eine stinknormale Tageswanderung ins Nirgendwo für einen Typ 1er mit sich bringt. Jetzt denke ich immer schon automatisch mindestens zwei Schritte weiter, um im Ernstfall nicht unvorbereitet zu sein. Auch das geht nach den Jahren ins Blut über und hilft mir oft ungemein in allen Lebenslagen.

Wer in einer Beziehung etwas beim Anderen erreichen will, der muss bei sich anfangen und mit gutem Beispiel voran gehen. Entsprechend musste nicht nur Lisa lernen mit Selbstdisziplin und gut organisiert den Diabetes zu managen, ich musste das ebenfalls. Heute kann Lisa auch mal hart die Sau rauslassen, feiern und über die Stränge schlagen – ich bin jetzt immer als Backup verfügbar, um dann dem Diabetes in den Arsch zu treten, wenn Lisa gerade mal etwas Besseres zu tun hat. Und sei das auch nur selig und betrunken nach einer tollen Feier durchzuschlafen.
Es ist für mich immer eine Freude, wenn sie auch nur für ein paar Stunden einfach unbeschwert ist und ich ihr die Verantwortung abnehmen kann. Für mich ist es keine Bürde eine Nacht als Wachposten zu opfern. Und das ist das Wichtigste, was ich gelernt habe: Schätze die kleinen Dinge im Leben und sei mitfühlender mit deinen Mitmenschen im Allgemeinen. Ein kleines Opfer bringt dich nicht um, aber für jemand anderen kann diese Geste die Welt bedeuten.
Epilog – Wort zum Geleit

Puh… Jetzt dürfen alle erst mal durchatmen, der letzte Teil war ja doch recht rührselig.
Doch an alle Typ F‘ler schicke ich nun noch einen kleinen Appell: Ich habe mich darauf eingelassen mich mit dem Diabetes zu beschäftigen und bin dadurch heute eine bessere Version von mir selbst. Es ist ein schönes Gefühl auf diese Art nicht nur eine Beziehung zu einem anderen Menschen, sondern auch sich selbst wachsen zu sehen. Habt den Mut euch drauf einzulassen, wer weiß wohin euch die Reise führt?
5/7 – würde jederzeit wieder! (Insider-Witz, Lisa versteht ^_^

Wow der Artikel haut mich aus den Socken!
Es ist sehr bewundernswert, wie eng diese Bindung und auch Peters Sichtweise auf das Wohl von Lisa ist. In wirklich allen Lebenslagen Unterstützung, Liebe, Verständnis und Halt zu finden, das findet eher selten. Du hast Mut gezeigt, um zu Lisa und ihrem Typ 1 zu stehen.
Ich wünschte jemand aus meinem Umfeld würde diese ganzen Punkte in solch einer Gänze betrachten und darüber schreiben.
Meistens fehlt dann doch der letzte Schritt, um auf den anderen so ganz und gar einzugehen. (Also eher 90% statt 100% Unterstützung.)
Ich wünsche euch weiterhin viele zauberhafte Momente und Erlebnisse zusammen.
Ihr seid beide tolle Vorbilder!
Danke dafür!
Lea
Glückwunsch zu deinem tollen „F’ler“, Lisa. Du hast ihn dir verdient;-)
Toller Artikel, Peter.