10 Jahre zuvor…
An das Jahr 2009 denke ich nicht besonders gerne zurück. Trotzdem musste ich in diesem Jahr immer wieder daran denken, wie ich und mein Leben vor 10 Jahren aussahen.
Retrospektiv lässt sich leicht sagen, dass 2009 der Tiefpunkt war. In Wirklichkeit war es das sicherlich nicht, nur eben keine besonders gute Zeit.
In dem Jahr erreichte mein Gewicht sein Höchstwert. Ich war nicht fett, aber laut BMI-Rechner mit einem Kilo im „Übergewicht“. Das klingt jetzt gar nicht so schlimm und trotzdem reichte es aus, dass ich mich zum ersten Mal in meinem Leben mit Mobbing konfrontiert sah. Über meinen Diabetes hat sich die gesamte Schulzeit nie jemand lustig gemacht – oder es gewagt einen blöden Spruch abzulassen. Mit dem Gewicht schien das anders zu sein. Hier hatte ich auch nicht das nötige Selbstbewusstsein. Vielleicht war es auch einfach das Wissen, dass ich für meinen Diabetes nichts kann, an meinem Gewicht hatte ich aber selbst Schuld. Ich zog mich zurück, igelte mich ein und traute mich praktisch nichts mehr. Auf meiner vorherigen Schule hatte ich viele Freunde und immer eine tolle Zeit. Man sagt ja Kinder können grausam sein, Teenager am Rande zum Erwachsenenalter aber mindestens genauso.
2009 war also das Jahr, in dem ich mich relativ stark aus dem sozialen Leben zurückzog und teilweise wirklich sehr unglücklich war. Es war auch das Jahr, in dem ich beschloss alles zu ändern und abzunehmen. Das Jahr, in dem ich anfing mein Insulin bewusst wegzulassen, um die überschüssigen Pfunde zu verlieren. Das Jahr in dem ich zum letzten Mal (für 4 Jahre) zum Diabetologen ging.
Es war das Jahr, in dem ich einen Brief an meine Kinder- und Jugendtherapeutin schrieb und um Hilfe bat, aber jedes Gespräch über den Diabetes abwürgte.
Zeit für Veränderungen
Schon ein Jahr später wechselte ich die Schulform. Entschied mich dazu, doch das Zentral-Abitur zu machen und fing mit Sport an. Zusätzlich reduzierte ich mein Insulin immer mehr. Als ich zwei Jahre später mein Abiturzeugnis in den Händen halten konnte , hatte ich auf dem Abschlussball Normalgewicht. Die negativen Menschen hatte ich aus meinem Leben geschmissen und ich fühlte mich schon viel wohler. Aber da ging noch mehr! Jetzt erst recht.
Nach dem Abi zog ich zusammen mit meiner besten Freundin 200km entfernt in eine andere Stadt, um zu studieren. Weit weg von meinen Eltern konnte ich endlich mein Leben so ausleben wie ich es wollte, ohne eine vernünftige Diabetestherapie. Hier gab es niemanden, der den Acetongeruch schon kilometerweit gegen den Wind roch, niemand der ständig fragte, wie meine Werte seien, ob ich beim Diabetologen war und wieso ich so gereizt war. Es war wirklich toll. Ich konnte meine Lüge komplett ausleben. Endlich nahm ich ab. Das Ganze ging ein Jahr lang gut.
Was danach passierte könnt ihr mehrfach auf diesem Blog lesen. 2013 fiel ich aufgrund des starken Insulinmangels ins ketoazidotische Koma. Das volle Programm. Krankenwagen, Intensivstation. Organe im Sparmodus, Magensäure war mir in die Lunge gewandert, während ich bewusstlos im Bett lag. Danach folgten viele Termine beim Diabetologen und in der Klinik. Ich begann eine erneute Psychotherapie. Lisabetes ging als „life and sugar“ online.
2019 – 20 Jahre Typ 1 Diabetes
Erst neulich habe ich alte Unterlagen aus den Kinderkrankenhäusern gefunden, bei denen ich früher in Behandlung war. Mein erster HbA1c-Wert bei der Diabetes-Diagnose 1999 lag bei 14%. Schon ein halbes Jahr später war mein HbA1c-Wert bei 6,8%. Das sollte dann auch der beste Hba1c-Wert bleiben, den ich für die nächsten 20 Jahre sehen sollte.
Egal was ich versuchte, ich bekam meinen Diabetes einfach nicht mehr richtig in den Griff. Klar, viele Jahre wollte ich das irgendwie auch gar nicht. Erst die Pubertät, Partys, Alkohol, Konzerte, Freunde – all das war einfach wichtiger. Dann kam das Insulin-Purging…
Seit 2013 versuche ich wieder mit meinem Diabetes klarzukommen. Und es war auch okay. Der Blog, die Community, meine neue Diabetologin, Insulinpumpen und rtCGM-Systeme machten es einfacher, aber trotzdem wollte es nicht so wirklich klappen.
2018 wurde wieder alles anders
Ende 2018 bastelte ich mir ein DIY-Closed-Loop-System und damit änderte sich vieles. Ich bekam nicht nur endlich einen HbA1c-Wert mit einer 6 vor dem Komma, sondern schaffte nun auch ganz andere Dinge. 2019 blieb das HbA1c genau dort, wo ich es 2018 hingeschafft hatte, aber noch viel wichtiger: Meine „Time in Range“ war ebenso gut und ich konnte meine „Hypos“ reduzieren.
„Loop“ machte es mir außerdem einfacher mit dem Diabetes Sport zu treiben. Endlich schaffte ich es mein Wunschgewicht zu erreichen.
Das geht nur mit Arschaufreißen
Zugegeben, das war alles andere als leicht. Jahrelang habe ich Sport gemacht, ohne die letzten Kilos zu verlieren, die mir zu meinem Wunschgewicht fehlten. 2013 schaffte ich es mit Insulin-Purging, doch die Kilos waren anschließend schnell wieder drauf. Ich wollte mir beweisen, dass ich es auch ohne kann. Dieses Jahr habe ich es durchgezogen: Ich war drei bis fünf Mal die Woche beim Sport. Immer für mindestens zwei Stunden. Ich machte Krafttraining und Ausdauer. Mal kombiniert, mal abwechselnd. Ich achtete strikt auf meine Ernährung. Erledigte alles was ging zu Fuß. Es wurde viel frisch und selbst gekocht. Hauptzutat: Gemüse. Ich verzichtete etwas auf Kohlenhydrate und versuchte mich außerdem zum größten Teil vegan zu ernähren.
Letzte Woche war es dann so weit: Als ich bei meinen Eltern zu Besuch war, stellte ich mich auf die Waage. Ich hatte mein Wunschgewicht erreicht. Das Gewicht, dass ich versuche seit 2009 zu erreichen. Das Gewicht, von dem ich mir so viel versprach. Das Gewicht, das ich seit meinem 15. Lebensjahr nicht mehr hatte. Jetzt habe ich es wieder und um ehrlich zu sein, fehlen mir tatsächlich die Worte. Ich kann gar nicht ausdrücken, wie glücklich und stolz ich bin. Ich habe weder mein Insulin reduziert (doch, eigentlich schon. Ich konnte meinen Insulinbedarf nämlich halbieren!), noch andere gefährliche Praktiken ausprobiert. Ich habe mir einfach nur verdammt hart den Arsch aufgerissen. In Wirklichkeit habe ich in den letzten 10 Jahren irgendwann aufgehört daran zu glauben, dass ich dieses Gewicht erreichen kann. Um so unwirklicher fühlt sich alles noch an.
Neuer Körper, stärkeres Selbstbewusstsein, mehr Stärke. Neue Lisa?
© Ramona Stanek; Tattoos, Travels, Type One
Aber nicht nur mein Körper hat sich verändert. All das hat so viel mit mir gemacht, dass ich in diesem Jahr auch persönlich so unfassbar über mich hinausgewachsen bin, dass es mich fast schon überfordert. Das Selbstbewusstsein, das ich vor über 10 Jahren am Eingang der neuen Schule abgegeben habe, ist zu mir zurückgekehrt – doppelt und dreifach. Ich bin gerade so lebenshungrig, abenteuerlustig und aufgedreht. So bin ich viel durch Deutschland gereist, habe viele Vorträge gehalten, all das gemacht, wovor ich Angst hatte, um die Angst zu besiegen und stehe heute, 2019, als ganz neuer Mensch vor euch. Ich selbst muss mich daran noch am meisten gewöhnen, glaubt mir!
Nicht nur mit Wohlfühlgewicht, auch mit neuem Selbstbewusstsein und mehr Stärke. Es fühlt sich so an, als wäre ich angekommen und gleichzeitig, als würde jetzt erst alles anfangen.
Jan Radler meint
Liebe Lisa,
Danke Dir für diesen tollen Artikel. Ich finde es einfach super zu lesen, dass es möglich ist und machbar ist. Ich habe seit 1970 Diabetes und kenne jede Therapie: Aluminium Nadeln, Einweg Spritzen, Schweineinsulin, Langzeit-, Misch-, und Kurzzeitinsulin, Diätplan, Harnteststreifen, Blutteststreifen und totale Disziplin, die jedoch ein Leben lang ziemlich ohne Belohnung geblieben ist. Mittlerweile haben die Ärzte mir den Bauch zweimal aufgeschnitten, erst wurde eine zusätzliche Pankreas einoperiert und 4 Woche später wieder raus und der Zucker schwankt seitdem wie schon immer. Jetzt bin ich seit 18 Monaten zum 2ten mal auf der Transplantationsliste. Aber ich will nicht aufgeben. Dein Blog und die Information über das Looping helfen mir dabei. Ich will auch nicht mehr warten und nicht aufgeben. Worauf denn auch? Das System ist bestellt und das Macbook bereit. Vielen Dank für Deine Inspiration Jan
PS: Links zu den verschiedenen Diabetes Online Kommunities, die Du gut findest wäre toll.
erarehumanumest meint
Alles Gute zum 20jährigen. Toll geschriebener Beitrag, man merkt dir die Erleichterung und Freude direkt an. Schön das es bei dir so gut läuft.