Der Weltdiabetestag 2018 ist vorüber. Saskia (Diafeeling) und Tine ( I can eat everything) haben dies zum Anlass genommen und eine 5-tägige Blogparade zum Thema Diabetes & Psyche initiiert.
*Disclaimer: Leider noch immer ein viel zu großes Tabuthema: Diabetes kommt tatsächlich häufiger zusammen mit psychischen Erkrankungen vor, als wir das vielleicht denken. In dieser Blogwoche, die auf den Weltdiabetestag folgt, wollen wir an fünf Tagen das Thema aus verschiedenen Blickwinkeln heraus aufgreifen, euch von unseren eigenen unterschiedlichen psychischen Erkrankungen berichten, gute und schlechte Geschichten erzählen und ganz ehrlich mit euch sein. Denn wir möchten das Tabu brechen, das Thema weiter zugänglicher machen und Stereotypen endlich aus der Welt schaffen!
Fakten, Fakten, Fakten
Obwohl Magersucht und Bulimie längst bekannt sind und immer mehr darüber gesprochen wird, ist Diabulimie weiterhin ein Tabuthema und wird, wenn überhaupt, hinter vorgehaltener Hand besprochen.
Neben Depressionen und Angststörungen sind Essstörungen die häufigste psychische Erkrankung bei Menschen mit Diabetes. Bei jungen Frauen mit Diabetes Typ 1 treten Essstörungen mehr als doppelt so häufig auf, als bei gesunden Frauen im gleichen Alter. Auch wenn die Zahlen bei jungen Männern deutlich geringer sind, sollte das Thema auch hier ernstgenommen und berücksichtigt werden.
Die Ursachen und Probleme sehen Ärzte darin, dass Diabetes-Typ-1 häufig im Kindes- und Jugendalter auftritt. Meistens dann, wenn das Bewusstsein für den eigenen Körper sowieso durch viele Faktoren beeinflusst und auch gestört werden kann. Durch die Diabetes-Diagnose kann in diesem Alter das Selbstwertgefühl schnell ins Wanken geraten. Außerdem spielt Essen plötzlich eine ganz andere Rolle.
Auch wenn der Zusammenhang zwischen Diabetes und Essstörungen heute nach wie vor nicht richtig bekannt ist, vermuten einige, dass Diabetes triggernd, also auslösend, für Essstörungen sein kann. So müssen Menschen mit Diabetes ganz anders mit dem Thema Nahrung umgehen. Sie müssen jede ihrer Portionen analysieren und berechnen, ein Verhalten, dass sich Essgestörte sonst hart antrainieren ist hier zum Überleben wichtig.
Diabetes bewahrt natürlich nicht vor irgendeiner Art der Essstörung, weswegen natürlich alle Formen von gestörtem Essverhalten bei Menschen mit Diabetes auftreten können. Trotzdem zeigt sich, dass besonders zwei Arten einen hohen Anteil der Essstörungen bei Diabetes ausmachen.
Binge-Eating-Störung
Beim Binge-Eating geht die Kontrolle über das eigene Essverhalten gänzlich verloren. Die Betroffenen leiden dadurch häufig an starkem Übergewicht und an Typ 2 Diabetes.
Insulin-Puring
Bei Typ 1 Diabetes hingegen sind viele vom sogenannten Insulin-Purging betroffen. Hierbei wird das lebenswichtige Hormon Insulin bewusst reduziert oder ganz weggelassen, um abzunehmen. Ohne den Botenstoff wird die Glucose aus der Nahrung einfach aus dem Körper geschwemmt. Die Blutzuckerwerte sind exorbitant hoch und der Körper bildet Ketonkörper. Es kann zu schweren Folgeerkrankungen bis hin zum ketoazidotischen Koma und schließlich bis zum Tod führen.
Das besonders Gefährliche bei dieser Art der Essstörung ist, dass sie schnell zur Gefahr werden kann, noch bevor Angehörige es dem Betroffenen ansehen können.
Meine eigene Geschichte…
…könnt ihr hier auf dem Blog mehrfach finden (Diabulimie Diary), deswegen möchte ich sie heute nur kurz anreißen. Als ich mit 10 Jahren Diabetes bekam, war das für mich vollkommen in Ordnung. Ich beschwerte mich nie. Mit der Pubertät kamen die Hormone und damit war auch mein Diabetes eine Zeit lang sehr schwer einzustellen. Außerdem nahm ich eine Menge zu. Wohl wegen den Hormonen, aber auch durch meine schlechte Diabetes-Einstellung. Aus dem ständig diskutierten „du bist zu dünn“ wurde innerhalb eines Jahres ein „du bist zu dick“ – und das mit 14/15 Jahren. Der Absolute Horror. Zuerst war ich so frustriert, dass ich mich einigelte und aus Frust noch mehr aß.
Bis zu diesem Punkt wurde mir immer wieder gesagt, dass ich mehr essen soll und dringend zunehmen muss. Plötzlich klangen die gleichen Stimmen aber ganz anders: „mach doch mal mehr Sport“ „willst du dich nicht mal mehr bewegen!“ „iss weniger“ „iss gesünder!“ „jetzt hast du aber ganz schön zugenommen“. Teilweise kamen diese Aussagen von meinen Ärzten. Als Teenager machte ich natürlich vollkommen dicht und fiel in ein Loch. Irgendwann, als ich tatsächlich mit 18 Jahren das erste Mal mit Mobbing konfrontiert wurde – wegen meiner Zunahme, fasste ich den Plan abzunehmen. Doch mit Sport ging es mir nicht schnell genug, also kam ich auf die Idee mein Insulin zu reduzieren. Das ging einige Jahre so. Ich zog zum Studieren aus, erklärte meinem neuen Freund die Krankheit nicht mal annähernd und redete allgemein nicht mehr über meinen Diabetes. Ich dachte, ich habe alles unter Kontrolle und immer, wenn es mir so schlecht ging, dass ich über der Kloschüssel hing, spritze ich Insulin. Ein Blutzuckermessgerät hatte ich da schon lange nicht mehr.
2013 fiel ich dann ins ketoazidotische Koma. Das war der Wendepunkt. Ein Arschritt, den ich aber tatsächlich brauchte, um zu erkennen was ich mir, meinem Körper und meinen Lieben antat. Ich suchte mir eine Diabetologin, stieg auf die Pumpentherapie um, ging zu einer Therapeutin und veröffentlichte meine Geschichte auf diesem Blog.
Arbeit vs. Herzensangelegenheit
Als mir jemand nach meinem Koma erzählt, ich solle doch mal Diabulimie googeln, fand ich ausschließlich Seiten auf Englisch. „Das kann doch nicht sein“, schoss es mir durch den Kopf. Gut, wenn es keine deutsche Seite gibt, die dieses Thema aufgreift, dann muss ich es eben selbst machen. Gesagt, getan und mein Blog wurde ein bisschen umstrukturiert. Heute geht es nicht nur um meine alltäglichen Gedanken rund um den Diabetes, sondern auch vorrangig immer wieder über die Diabulimie und das Insulin-Purging.
Seitdem ist es nicht nur eine Herzensangelegenheit, sondern auch meine Arbeit geworden über Diabulimie und Insulin-Purging aufzuklären. Ich halte Vorträge, spreche mit Ärzten und Diabetesberatern und versuche anderen Betroffenen zu helfen, so gut ich eben kann. Und sei es nur, dass ich da bin, ihnen zuhöre und signalisiere: „Du bist nicht allein!“
Die Nachfrage ist der Wahnsinn. Mich fragten so viele Menschen, ob ich nicht auf ihrer Plattform oder Zeitung über das Thema schreiben möchte, ob ich nicht Vorträge halten oder anderweitig informieren und aufklären möchte, sodass ich kurzerhand eine Selbstständigkeit angemeldet habe, um allen Anfragen und Angeboten gerecht werden zu können.
So wurde die Diabulimie zu einer Art Arbeit, auch wenn ich es so nicht sehen kann, denn es ist nach wie vor ein reines Herzensprojekt.
4 Jahre später: Ein neues Leben
Heute ist alles anders. Ich rede wieder über meinen Diabetes, ich verleugne und verstecke ihn nicht mehr. Ich trage ein rtCGM zur kontinuierlichen Glukosemessung und eine Insulinpumpe. Zu meiner Diabetologin gehe ich regelmäßig. Ich habe meinen Frieden geschlossen, mit dem Diabetes. Auch wenn es Tage gibt, an denen wir uns nicht besonders gut verstehen, würde ich sagen, wir haben heute eine gute Beziehung. Im Vergleich zu früher auf jeden Fall.
Ich mache natürlich weiterhin Sport und ernähre mich gesund. Noch immer bin ich nicht zu 100% zufrieden mit meinem Körper, aber wer ist das schon? In meinem Leben hat das Gewicht immer eine zentrale Rolle gespielt, es war nie „normal“ und wurde immer diskutiert. Da ist es schwer den Fokus plötzlich anders zu setzen.
Natürlich habe ich auch heute noch manchmal böse Gedanken, aber eigentlich schaffe ich es zu 98% diese Gedanken zu verarbeiten, ohne das ich dem Verlangen nachgehen muss.
All das war ein schwerer Weg, der sich aber mehr als gelohnt hat. Das Leben ist so wundervoll und bietet einem so viel mehr, dass es eine Schande ist, wenn man dies aus gesundheitlichen Gründen nicht voll und ganz genießen kann.
Für mich hat die Diabulimie am Ende sogar etwas Gutes bereit gehalten: Ich habe meinen Weg gefunden, mit dem ich mehr als zufrieden bin. Ich weiß nicht, wo ich heute ohne all das stehen würde. Wahrscheinlich mit einem Bachelor in Germanistik in der Hand, aber absolut keiner Ahnung, was ich damit anfangen möchte.
Durch meine Erkrankung bin ich zu einer Arbeit gekommen, die mir wichtig ist und die mir Spaß macht. Ich kann anderen Menschen helfen, wie großartig ist das denn?
Und damit geht es mir gut, richtig gut! Ich kann aus meiner Geschichte und meinen Erfahrungen profitieren und dies weitergeben. Ich sehe das als großartige Chance, die ich ohne das nie gehabt hätte.
Noch lange nicht bekannt genug!
Ein Arzt erzählte mir in einem Interview, dass gut 90% aller Menschen mit Typ 1 Diabetes schon mal eine Insulindosis ausgelassen haben. „Die meisten natürlich nicht bewusst oder weil sie abnehmen wollten, aber sowas passiert schnell.“
Oft wird das Insulin-Purging nicht direkt erkannt. Noch heute gehen viele Ärzte erst einmal von einer „Phase“ aus und Begriffe wie „Diabulimie“ und „Insulin-Purging“ sagen nicht gleich jedem etwas.
Als ich für ein weiteres Interview Diabetologen zu dem Thema befragen wollte, bekam ich tatsächlich auch Antworten wie: „Das gibt es nicht.“, „Diabulimie? Das haben Sie sich doch ausgedacht!“ zu hören.
Das ich darüber mehr als schockiert war, brauche ich euch wohl nicht zu erzählen. Aber es spiegelt wunderbar wider, dass diese Themen leider noch nicht präsent genug sind und viel zu selten diagnostiziert & diskutiert werden. Damit wird den Betroffenen leider die richtige Hilfe, die sie benötigen würden, untersagt.
Kämpfen lohnt sich immer!
Es ist enorm wichtig, das die Betroffenen die richtige Hilfe bekommen. Denn erst dann können sie meistens den ersten Schritt machen. Sich eingestehen, dass man ein Problem hat und offen darüber reden. Das ist tatsächlich das Schwerste. Aber wenn man sich einmal geöffnet hat, das verspreche ich euch, wird es von Mal zu Mal leichter und es hilft! Auch danach steht ein langer und schwerer Weg bevor– das will ich gar nicht bestreiten, aber es ist nicht unmöglich und es wird sich immer lohnen!
Das Leben ist so großartig und hält so viel für uns bereit, dass es sich immer lohnen wird dafür zu kämpfen. Und irgendwann wird es einfacher. Selbst wenn die Gedanken immer mal wieder aufkeimen, mit der richtigen Motivation und Hilfe kann man sie gut verarbeiten und dem Drang widerstehen. Ich möchte die Menschen einfach erreichen, bevor sie denselben Arschritt bekommen wie ich. Denn soweit muss es gar nicht erst kommen. Ein großer Beitrag dazu wäre es einfach schon, wenn wir offen über solche Themen sprechen.
Es gibt ein Leben danach und das kann manchmal sogar noch besser sein, als die Zeit davor.
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