Als Mensch mit Diabetes kann man an Weihnachten schon vor der ein oder anderen Herausforderung stehen. Das viele leckere Essen lässt die Insulinresistenz steigen, die Blutzuckerwerte fahren Achterbahn. Es ist entweder so ruhig und besinnlich, dass man sich vollgefuttert nur noch von Esstisch zu Sofa und wieder zurückbewegt oder es herrscht so viel Trubel und Hektik, dass man den Diabetes einfach mal Diabetes sein lässt.
Wenn dann noch Alkohol dazu kommt, wird der Diabetes noch ein Stück pflegeintensiver. Und dann ist das genau der richtige Moment für unglückliche und nervende Diabetes-Kommentare. Auch heute gibt es noch eine Menge Vorurteile über Diabetes, die uns vielleicht häufiger treffen als Außenstehende und Angehörige sich das vielleicht vorstellen können.
Ich bin mir sicher, wenn ihr euch in der Weihnachtszeit in der Diabetes-Community umschaut, findet ihr viele Beiträge über Diabetes und Weihnachten. Eine Menge Beiträge darüber, welche Herausforderungen es für Menschen mit Diabetes an Weihnachten geben kann. KE- und BE-Tabellen für den Weihnachtsmarkt und den Festschmaus, Erfahrungsberichte vom Weihnachtsessen und viele Family-Stories zum Lachen, Weinen, aber auch zum Nachdenken.
Diabetes war bei uns normal
Als ich im Dezember 1999 meine Diabetes-Diagnose bekam und für Weihnachten zur Probe nach Hause fahren durfte, war zu Hause schon fast alles Routine. Mein Bruder hatte bereits seit 12 Jahren Typ 1 Diabetes, es gab für mich keine „Rechte“, die ich mir erkämpfen müsste. Keine Diskussionen, die ich zu führen hätte. Keine Aufklärungsarbeit die ich zu leisten hätte. Dafür hatte ich einen festen Spritz-Ess-Plan, der eben eingehalten werden musste. Da half eben kein Reden oder Diskustieren. Ich dachte nur: „Mein Bruder macht das seit 12 Jahren. Dann werde ich mich auch nicht beschweren!“
Die Essstörung ist die größere Herausforderung
Mit meiner Essstörung kommen für mich an Weihnachten viel mehr Probleme auf mich zu als mit Diabetes. Nach dem die ICT-Therapie für mich Geschichte war, konnte ich schließlich essen was ich wollte, wann ich wollte und wieviel ich wollte. Der Himmel, wenn man es vorher nicht konnte, wirklich wahr!
Aber nur weil ich heute als Mensch mit Diabetes alles essen kann und darf heißt das nicht, dass ich das auch tun muss! Uns ist wichtig, die Menschen über Diabetes aufzuklären. Uns ist wichtig, die frohe Botschaft zu verbreiten, dass wir schon lange alles essen können und dürfen, wir müssen eben „nur dafür spritzen“.
Manchmal läuft mir dabei ein kalter Schauer über den Rücken. Muss ich mir jetzt jeden Tag das kohlenhydratreichste Essen gönnen, weil ich es kann, damit ich es zeigen kann, damit die Welt sieht: „Oh wow, die hat Diabetes und kann trotzdem jeden Tag Pizza, Baguette, Pasta und Co essen, cool!“
Ja, es ist cool, wirklich. Trotzdem möchte ich UNABHÄNGING von meinem Diabetes auf meine Ernährung – und ja, auch auf mein Gewicht achten. Es geht mir besser, wenn ich mich gesund und ausgewogen ernähre. Ich bin agiler, mobiler, motivierter, wenn mir nicht die schweren Kohlenhydrate im Magen liegen. Das alleine sollte schon ausreichen, um sich zu erklären.
STOP!
Moment mal! Warum muss man sich für seine Essverhalten überhaupt erklären? Warum interessiert es überhaupt jemanden was und wieviel ich esse? Eigentlich geht das überhaupt niemanden etwas an! Und wenn ich mich morgen dazu entscheide nur noch pink-gefärbte Lebensmittel zu konsumieren, dann ist das so. Das nur einmal generell. Ich finde es grausam, dass sich teilweise darüber pikiert wird, dass es Menschen gibt, die sich Low Carb, High Carb, High Fat, vegetarisch oder vegan ernähren. Haben diese pikierten Menschen keine anderen Probleme im Leben, dass sich darüber Gedanken machen wer sich wie ernährt? Halleluja!
Genau so wenig möchte ich mich dafür rechtfertigen, das ich mich gesund ernähren möchte. Bei manchen Kommentaren und Memes bekommt man auch hier den Eindruck, dass man sich dafür entschuldigen muss, dass man auf sein Gewicht achten möchte. Wie ich zum Schlankheitswahn in der Gesellschaft stehe, habe ich schon mehrfach erklärt und toll ist daran rein gar nichts. Gerade mit einer Essstörung triggert einem alles an diesem Schlankheitswahn. Trotzdem sollte jeder das Essen dürfen worauf er Lust hat und was ihm guttut. Punkt.
Hilfe ist erwünscht
Als Mensch mit einer Essstörung ist es fast schon gerechtfertigt, dass die Angehörigen wenigstens einen kleinen Blick auf die Nahrungsaufnahme werfen. Aber das meine ich auch gar nicht damit, das versteht ihr, oder?
Es ist ein Unterschied, ob ich eine Krankheit habe und Hilfe dabei benötige mich normal zu ernähren oder ob ich ein eigentlich gesunder Mensch bin, der seine Gründe und Überzeugungen für seine Ernährungsform hat. Solange es dem Menschen gut geht und er sich nicht in gesundheitliche Gefahren begibt, sollte das Essverhalten in der Gesellschaft meiner Meinung nach komplett unkommentiert bleiben.
Das Menschen mit einer Essstörung eine andere Motivation benötigen ist aber klar. Trotzdem ist es immer schwierig mit dem Essen und dem Gerede und Kommentieren von Essen.
Weihnachten mit einer Essstörung
Ich liebe Essen, so ist das ja nicht. Wenn es mir komplett egal wäre, wie ich aussehe und wie ich mich fühle, dann würde ich mich den ganzen Tag durch alle kulinarischen Ergüsse dieser Welt futtern. Meine Essstörung erlaubt mir das nur in Maßen. Ein schönes Weihnachten zu verleben erlaubt sie mir auch nur in Maßen. Ich bekomme schon vorher Schweißausbrüche, wenn ich an das ganze Essen an Weihnachten denke.
Schon während des Insulin-Purging war der Dezember ein schwieriger Monat. Oft habe ich mein Insulin so sehr rationiert, dass es mir an Weihnachten körperlich richtig schlecht ging. Das ich Weihnachten dadurch für mich selbst kaputt gemacht habe, war mir egal. Heute spritze ich zwar mein Insulin, habe aber regelrecht Angst vor einem Kalorienüberschuss. Also achte ich ganz genau darauf was ich esse und wieviel ich esse. Ich mache auch Weihnachten Sport und meine Portionen bleiben klein, den Nachtisch und Kuchen lasse ich aus. Genießen mag für viele von euch anders klingen. Für mich ist das okay. Ich möchte mir den Bauch einfach nicht so vollschlagen, dass ich mich nur noch zum Sofa rollen kann. Denn für mich gibt es kein schlimmeres Gefühl. Für mich ist es okay auf den Kuchen zu verzichten. Ich habe nicht das Gefühl, ich würde jetzt etwas verpassen. „Verzichten“ würde ich es deswegen auch nie nennen. Ich möchte nur einfach keinen Kuchen essen. Komischer Weise kommen dann die alten Vorurteile hervor. Verwundert sitzen mir Menschen gegenüber die ich fragen: „Aber du darfst das doch essen!“ Ja, ich darf, ich möchte aber nicht. Und vielleicht möchten mich jetzt auch einige von euch steinigen, aber manchmal, wenn mich jemand fragt „darfst du das essen?“ dann sage ich: „Gerade lieber nicht, bin etwas hoch!“. Dabei würde ich nie wegen einem zu hohen Blutzuckerwert auf Essen verzichten (diese Doppelmoral :D). Trotzdem wird diese Erklärung oft viel besser angenommen als wenn ich sagen würde „ich möchte gerade keinen Kuchen essen“. Denn dann muss ich jedes Mal erklären, warum ich keinen Kuchen möchte.
erarehumanumest meint
Danke für diesen Beitrag, du sprichst mir komplett aus der Seele.
Jeder sollte so essen können wie er/sie es möchte. Gerade dieses sich für jedes Essen bzw nicht Essen rechtfertigen zu müssen nervt einfach extrem.
Dennoch frohe Weihnachten und ein schönes neues Jahr