„Pfffffuuuhhhh“, die Luft entweicht laut zischend aus meinem Mund, als ich mit meinem Finger auf den „Senden- Button“ klicke. Noch im selben Moment klickt mein anderer Finger das Display an der Seite aus. Ich lege das Smartphone umgedreht auf den Nachttisch. War es richtig, das jetzt zu posten? Nein, ich will gar nicht wissen, was jetzt passiert. Doch ich halte es nicht lange aus und schon etwas später halte ich das Smartphone erneut vor mein Gesicht. Das helle Display enthüllt mein Lippengebeiße im Dämmerlicht. Ich will eben doch wissen, was all die Menschen dort draußen denken.
Über mich denken.
Ich muss es wissen.
Einige Reaktionen habe ich tatsächlich schon erhalten. Sie sind alle furchtbar lieb, süß und aufbauend. Es gibt so viele wunderbare Menschen da draußen, denke ich und dunkele das Handy erneut ab, aus Angst vor schlechten Reaktionen.
Die Nacht im Hotel
Auf Instagram hatte ich etwas gepostet, dass mich schon seit längerer Zeit beschäftigt. Bisher fehlte mir aber nicht nur der Mut darüber zu schreiben, sondern ich fühlte mich noch nicht schlecht genug. Mir ging es einfach noch zu gut. Das soll nicht heißen, dass es mir heute schlechter geht. Nein, eigentlich geht es mir sogar recht gut. Trotzdem beschäftigt mich diese eine Sache immer mehr. Irgendwann war einfach der Moment gekommen. Ein Abend, alleine, aber gemütlich, in einem netten Hotel, da musste es einfach raus. Ich bereute es sofort. Es war zwar auch erleichternd, aber vorwiegend durchströmte mich Angst. Angst vor den Gedanken der Anderen. Man, habe ich Probleme! Immerhin habe ich mich für diesen Blog entschieden, für diese Themen. Eine Entscheidung meine privaten Dinge zu erzählen – wenn ich denn wollte. Nun ja, und bisher kam immer irgendwann der Moment, da wollte ich. Weil es mir auch irgendwie hilft es rauszulassen, loszulassen.
Ihr fragt euch sicherlich schon lange, worum es hier eigentlich geht. In der Kurzfassung habe ich auf Instagram eine Story über mein momentanes Essverhalten gepostet. Ich hatte an diesem Tag 29g Kohlenhydrate gegessen. Und auch an den anderen Tagen sah mein Tagesprofil nicht anders aus. Ich erzählte, dass ich Angst vor Essen habe, speziell vor Kohlenhydraten. Das ich momentan wieder vermehrt mit meiner Essstörung zu tun habe.
Weniger ist Mehr
Ich vergleiche eine Essstörung immer mit einem abstinenten Suchtkranken. Einen Rückfall könnte es jeder Zeit geben, ausgelöst durch den dümmsten Zufall. Im Alltag lauern ständig Gefahren. In den letzten Jahren hatte ich viele gute Phasen, die zudem auch immer länger andauerten. Doch in diesem Jahr verfiel ich wiedermal in eine etwas schlechtere Phase. Durch meine neue Diabetestherapie ist das Insulin-Purging unmöglich geworden. Außerdem kann ich wirklich stolz behaupten, dass mich am Insulinmangel rein gar nichts mehr reizt. Das habe ich durch. Deswegen projizierte ich meinen Kontrollzwang auf mein Essverhalten. Dieses Mal mit dem klassischen Kalorienzählen. Es begann mit einer App, die mir sagte, wieviel Kilokalorien ich zu mir nehmen sollte. Schnell wollte ich meine Vorgaben unterbieten. Mehr und immer mehr. Das Essen wurde weniger. 30g Kohlenhydrate sind für mich ein Muss, um genügend Energie für alles zu haben, mehr auch nicht. Noch reicht mir diese Energie, oder ich rede es mir ein.? Es funktioniert. Noch.
Gerade das ist das Heikle an der Sache, das weiß ich auch. Der Sport, das Adrenalin, das Weglassen von Mahlzeiten, das Unterbieten der Ernährungs-App, das Überbieten der Trainings-App, der Kontrollwahn, die Hosen, die lockerer sitzen, all das pusht. Gibt Energie und Verlangen nach Mehr. Ihr könnt euch nicht vorstellen wie sehr! Mit Sicherheit muss irgendwann der Einbruch kommen. Für mich ist dieser aber noch Welten entfernt – so fühlt es sich zumindest an. Jetzt.
Auf der dunklen Seite der Macht bin ich durch die Angst vor Essen eingeschränkt. Neue Herausforderungen beim Essen mit Freunden und Verwandten. Die plötzliche Abneigung dagegen, dass Essen zu gesellschaftlichen Ereignissen dazugehört wie unser Insulin zu uns. Das völlig aufgelöst, weinend und zitternd auf dem Sofa Sitzen, weil man mehr gegessen hat, als man sich selbst erlaubt hatte. Das ständig schlechte Gewissen. Der Schrecken im Nacken zu versagen. Der Selbsthass.
Vielleicht habe ich auch ein bisschen Angst vor dem, was danach kommt. Wieder eine Therapie?
Suchtkranken wird das Objekt der Begierde weggenommen. Essen ist aber für jeden Menschen überlebensnotwendig. Menschen mit einer Essstörung wird geraten Essen nicht mehr so viel Raum zu geben. Es nicht mehr so sehr zu thematisieren, es nicht mehr zu kontrollieren und zu bewerten. Auch das müssen wir Menschen mit Diabetes aber mit unserem Essen machen. Es jedes Mal analysieren und bewerten. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob es da überhaupt einen Ausweg gibt. Dieser Pessimismus liegt eigentlich gar nicht in meiner Natur, fragt mich also bitte nicht woher das alles kommt.
Fakt ist,
Fakt ist, dass ich momentan noch unbelehrbar bin. Es geht mir gut, ich fühle mich als würde ich fliegen können. Meistens.
Fakt ist, dass ich gerade Extreme lebe. Himmelhoch jauchzend wenn ich die Kontrolle behalte vs. zu Tode betrübt, wenn ich sie einmal scheinbar verliere.
Fakt ist, dass ich mir auch trotz solch wiederkehrender Phasen nicht die Leidenschaft am Leben nehmen lasse. Ja, das Leben ist manchmal schwierig. Für jeden von uns. Aber irgendwann wird es auch wieder leichter. Manchmal ist es beschissen, manchmal das größte Geschenk. Entmutigen lassen werde ich mich nicht. Und irgendwann werde auch ich wieder ordentlich reinhauen können, ohne die leiseste Träne vergießen zu müssen.
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