Pokémon go ist gerade das große Ding. Alle rennen raus und fangen in der realen Welt mit einer Handyapp kleine Monster. Ganz ehrlich: ich freue mich schon total darauf, es auch endlich spielen zu können. Wenn da nicht diese eine Sache wäre. Das Rausgehen.
Klingt verrückt oder? Aber ich habe Angst das Haus zu verlassen.
Seitdem ich im Juni zwei schwere Unterzuckerungen hatte, traue ich mich kaum vor die Tür.
In der Woche nach der zweiten schweren Unterzuckerung ging ich am Montag in die Uni. Während meiner ersten Vorlesung scannte ich meinen Blutzucker um die 20 mal mit dem Libre. Meine Werte waren perfekt und jeder andere hätte sich sicherlich darüber gefreut, aber ich wurde nervös. So nervös, dass ich nach der Vorlesung meine Sachen packte und auf dem direktesten Weg nach Hause lief.
Eine ganze Woche verließ ich nicht das Haus,
traute mich weder zur Uni, die gerade mal 10 Minuten zu Fuß von meiner Wohnung entfernt war, noch zum Einkaufen oder zum Sport.
Ich war so sauer, enttäuscht und tatsächlich auch ein bisschen einsam (obwohl ich das manchmal mag – solange es in meiner Hand liegt es zu ändern). Ich hasste den Diabetes und mich, hatte so die Schnauze voll, dass ich erst mal resignierte und blieb, wo ich war. Bis der Punkt kam, an dem ich mich auf keinen Fall weiter in diese Angst hineinsteigern wollte und mich am nächsten Montag wieder zur Uni zwang.
Dennoch lasse ich alle anderen überflüssigen Wege weg (noch immer). Ich gehe zur Uni und danach so schnell wie möglich nach Hause.
Den Einkauf übernimmt seitdem mein Freund.
Manchmal gehe ich auch mit, denn solange jemand bei mir ist, habe ich keine Probleme mich draußen zu bewegen, aber alleine scheint mir die Welt da draußen total unsicher. Das macht mich wahnsinnig, denn ich komme vom Land, von einem großen Bauernhof und unsere kleine Wohnung fühlt sich oft schon an wie ein Käfig. Dann muss ich einfach raus. Ich bin eben so ein „draußen-Kind“und das ich das im Moment nicht kann, raubt mir fast den Verstand, aber überwinden kann ich mich dennoch nicht.
Aber ich bin auch jemand, der sich immer wieder zwingt, genau das zu tun wovor er Angst hat, denn (Überraschung) ich habe auch Angst davor mich nicht weiterzuentwickeln. Hier stehen zu bleiben.
Also fing ich wieder mit Sport an
Allerdings zu Hause. Ich mache in meiner winzigen Wohnung Yoga, fahre auf meinem Hometrainer und mache Workouts mit einer Handyapp. Das funktioniert sogar ganz gut, mit weit geöffnetem Fenster. In meiner Komfortzone habe ich nicht mal Angst vor Sport.
Der nächste Schritt war dann das Einkaufen.
Als mein Freund neulich mit der Uni ein Wochenende auf Exkursion war, blieb mir auch gar nichts anderes übrig, als Samstag noch schnell selbst Tomaten zu holen (ohne Tomaten kann ich nicht leben).
Mit einem sicheren Wert von 198 stiefelte ich also zum nächsten Rewe, der ungefähr einen fünf-minütigen Fußmarsch von uns entfernt ist.
Ich genoß es richtig und wollte meinen Ausflug feiern, etwas Zeit im Supermarkt verbringen, stöbern, in den Zeitschriften blättern.
Doch noch in der Gemüseabteilung fühlte ich mich etwas komisch. Nicht unterzuckert, nur mulmig. Ich scannte: 120, mit Trendpfeil gerade nach unten. Ich bekam Angst, schaltete meine Pumpe aus (3 Einheiten aktiv), holte schnell die paar Dinge, die ich brauchte, packte mir noch eine Cola ein und ging schnurstracks zur Kasse und anschließend nach Hause.
Zu Hause hatte ich dann auch schon 78 mg/dl. Mann, war ich froh wieder auf meinem Sofa zu sitzen, in meinem sicheren Wohnzimmer.
Seitdem ist es so geblieben. Ich gehe zur Uni und zu wichtigen Terminen, zu denen ich muss, mit einer Tüte voller Essen und dem Libre immer in der Hand und danach wieder nach Hause.
Immer wieder versuche ich aus diesem Käfig auszubrechen.
Letzte Woche musste ich zu meiner Diabetologin.
Mein Plan war, dass ich mit der Straßenbahn zur Praxis fahre und den gesamten Weg zurück gehe. Aber nicht alleine. Ich fragte meinen Freund, ob er mich begleiten würde und er willigte natürlich ein. Schon auf der Hinfahrt hatte ich eine Unterzuckerung und stopfte mir drei BE in den Mund. Straßenbahnfahren mit Unterzuckerung ist, wie ich finde, die absolute Hölle.
Als wir uns dann auf den Rückweg machten, war mein Wert immerhin bei 85 angekommen. Dennoch ließ ich die Pumpe aus. Immer wieder kontrollierte ich und als ich nach der Hälfte des Weges wieder bei 56 mg/dl angekommen war und ich die letzten zwei BE, die ich dabei hatte, gegessen hatte, setzte ich mich in die Straßenbahn und fuhr den Rest des Weges.
Der erste richtige Spaziergang ging also schon mal voll in die Hose und machte mir nicht so richtig Mut.
Letztes Wochenende stand dann eine Redaktionskonferenz der Blood-Sugar-Lounge an.
Dort waren wir extra nach Mainz in die heiligen Hallen des Kirchheim-Verlags eingeladen worden.
Und wieder sah ich eine Chance mich zu beweisen, es vor allem mir selbst zu zeigen.
Kaum am Bahnhof angekommen (wieder mal ein fünfminütiger Weg, ja, ich wohne sehr zentral :D) spürte ich eine Unterzuckerung. Das Libre sagte 48, die blutige Messung sagte 48. Ich bekam mal wieder Panik. Aß alles auf, was ich mir für die zwei Tage eingepackt hatte und rief meinen Freund an: „Kannst du einfach kurz am Telefon bleiben? Ich habe 48 und habe Angst.“ Danach brach ich noch in Tränen aus, bis ich merkte, dass meine Werte stiegen.
Am liebsten wäre ich wieder nach Hause gegangen und ich fragte mich: „Warum mache ich das? Ich werde nie wieder alleine reisen!“ Ich überlebte das Wochenende natürlich, es war übrigens ein tolles Wochenende und es wäre schade gewesen, das alles zu verpassen.
Am Ende war ich stolz auf mich, dass ich es gemacht und vor allem geschafft hatte. Ein komischer Beigeschmack bleibt trotzdem. Ich, heulend am Bahnhof wegen einer Unterzuckerung. Ob ich in näherer Zukunft noch mal alleine reise, weiß ich gerade tatsächlich nicht. Irgendwie will und muss ich das vorher besser in den Griff bekommen.
An dieser Stelle möchte ich dann doch schon mal erzählen, was meine Diabetologin und ich ausgeheckt haben: Momentan läuft bei mir ein Antrag zum Pumpenwechsel auf die Minimed 640g und den Enlite Sensor. Diese Kombi würde mir momentan enorm helfen, denn der Sensor erkennt Unterzuckerungen frühzeitig und schaltete die Pumpe ab. Dabei geht es mir nicht mal vorrangig um die Unterzuckerungen an sich, sondern um die Angst die ich davor habe. Ich glaube, dass ich mich damit einfach sehr viel sicherer fühlen werde und mich mehr traue.
Dennoch will ich nicht alles davon anhängig machen und werde mich immer wieder selbst herausfordern. Auch wenn es manchmal ein richtiger Kampf ist.
Die nächsten Wochen werde ich zusammen mit meinem Freund bei mir zu Hause auf dem Land verbringen und da wollen wir jeden Tag durch den Wald wandern. Ich denke, dass es mir da schon sehr viel leichter fallend wird und vielleicht kann ich am Ende auch alleine Laufen.
+++ UPDATE+++ Nachdem ich mir tatsächlich de Pokémon Go-App heruntergeladen habe und eine halbe Stunde lang versucht habe in meiner Wohnung kleine Monster zu fangen, platze ich so vor Neugierde, dass ich tatsächlich einfach los ging. Zwar nicht lange, aber es war mein erster „einfach mal rausgehen“ Spaziergang alleine. Und es war guuuut. Unfassbar, dass es so einer App benötigte um mich, einen 26 jährigen, zum Stubenhocker mutierten Angsthasen, vor die Tür zu treiben.
Christina meint
Hey Lisa,
Lese gerne deine Posts, da ich es toll finde dass du auch die Schattenseiten beim Diabetes zeigst.
Bei deinem Foto oben habe ich ein leichtes DejaVu Erlebnis…der Ausblick sieht aus wie aus meiner vorherigen Wohnung o.O
Lisa meint
oO Haha, kommst du denn auch aus Kassel?
Lea meint
Und mal wieder kann ich deine Gefühle und Gedanken absolut nachvollziehen.
Die ersten Jahre mit Diabetes (von der Angststörung mal abgesehen) bin ich nirgends allein hingegangen und habe ja wirklich bis zu 30x täglich gemessen, weil ich so wahnsinnige Angst vor Unterzuckerungen hatte :/
Das Problem damals war leider auch, dass meine Werte wirklich chaotisch waren, was auch daran lag, dass mein Körper doch noch relativ viel Restinsulin produzierte und ich ohne etwas zu tun oft unterzuckert bin.
Das macht die Angst natürlich nicht gerade besser…
Das Beste bei solcher Angst ist tatsächlich Konfrontationstherapie, denn wenn du allein zuhause sitzt, steigerst du dich ja wirklich nur in die Angst rein.
Aber ich kann verstehen, dass man da keine Lust drauf hat, wenn alle versuchen, rauszugehen, so schief gehen!
Ich wünsche dir ganz viel Kraft zum Weiterkämpfen <3
Lisa meint
Vielen Dank, liebe Lea!
Ich finde es sooo toll, was du geschafft hast und das macht mir auch echt Mut. Zumal ich glaube, dass ich, wenn überhaupt, noch ganz am Anfang solcher Angst stehe. Aber mir graut es davor, dass ich mich wirklich hineinsteigere, so etwas kann ich nämlich ganz gut :D. Deswegen versuche ich so früh wie möglich dagegen zu wirken.
Wie hast du es denn aus diesem Chaos heraus geschafft?
<3
rebecca meint
Dieses gleiche Drama habe ich zeitweise selbst im Studium mitgemacht. Mir sind deine Gedankengänge mehr als bekannt. Allerdings wird sich dies auch nach einer gewissen Zeit wieder „normalisieren“. Die Gedanken spielen unterbewusst hierbei eine viel zu große Rolle…
Für deinen Diabetes ist es wirklich sinnvoll auf ein CGMS integriertes System umzustellen. Und den ersten Schritt hast du ja schon getan 🙂
Wichtig: Nicht verkrampfen. Und alles Liebe.